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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Malern der niederländischen Schule ist sehr wahr-
scheinlich eben so wenig Gründliches vom Harmonie-
spiel der Farben bekannt gewesen, und sie setzten
an dessen Stelle, wie erwähnt worden, den Ton.
Daß sie die Wirkung der Farben, das Maaß ihrer
Energie, Freundschaft und Abneigung, noch weniger
als die Venezianer eingesehen, erhellet fast unwider-
sprechlich aus einem großen schönen Gemälde des
van Dyk in der Tribune der florentinischen Galerie,
wo derselbe eine unzulängliche Harmonie durch will-
kührlichen Gebrauch von Licht und Schatten zu er-
zwecken suchte, so nämlich, daß mehr oder weniger
Hell und Dunkel an die Stellen gesetzt ist, wo der be-
absichtigte Endzweck durch Anwendung schicklicher Farben
besser und sicherer erreicht worden wäre.

Bey Pietro von Cortona hingegen nimmt man,
da wo er es für zuträglich fand, ein fröhliches
mannigfaltiges Farbenspiel wahr. Nach Erforderniß
wußte er aber auch das Ganze gehörig zu mäßigen,
niederzuhalten und gleichsam ins Düstre oder Traurige
herabzustimmen. Immer sind indessen verwandte, be-
freundete Farben, die sich wechselseitig heben, neben-
einander gesetzt, und widerwärtige Contraste finden
sich niemals in seinen Werken. Die ganze neuere
Kunst hat kein Gemälde aufzuweisen, worin die Aus-
theilung der Farben eine so gefällige Wirkung thäte,
als dieses Meisters Altarbild bey den Capuzinern
zu Rom, den Paulus darstellend, der sein Gesicht
wieder empfängt, oder das weitläuftige Deckengemälde

II. 24

Malern der niederlaͤndiſchen Schule iſt ſehr wahr-
ſcheinlich eben ſo wenig Gruͤndliches vom Harmonie-
ſpiel der Farben bekannt geweſen, und ſie ſetzten
an deſſen Stelle, wie erwaͤhnt worden, den Ton.
Daß ſie die Wirkung der Farben, das Maaß ihrer
Energie, Freundſchaft und Abneigung, noch weniger
als die Venezianer eingeſehen, erhellet faſt unwider-
ſprechlich aus einem großen ſchoͤnen Gemaͤlde des
van Dyk in der Tribune der florentiniſchen Galerie,
wo derſelbe eine unzulaͤngliche Harmonie durch will-
kuͤhrlichen Gebrauch von Licht und Schatten zu er-
zwecken ſuchte, ſo naͤmlich, daß mehr oder weniger
Hell und Dunkel an die Stellen geſetzt iſt, wo der be-
abſichtigte Endzweck durch Anwendung ſchicklicher Farben
beſſer und ſicherer erreicht worden waͤre.

Bey Pietro von Cortona hingegen nimmt man,
da wo er es fuͤr zutraͤglich fand, ein froͤhliches
mannigfaltiges Farbenſpiel wahr. Nach Erforderniß
wußte er aber auch das Ganze gehoͤrig zu maͤßigen,
niederzuhalten und gleichſam ins Duͤſtre oder Traurige
herabzuſtimmen. Immer ſind indeſſen verwandte, be-
freundete Farben, die ſich wechſelſeitig heben, neben-
einander geſetzt, und widerwaͤrtige Contraſte finden
ſich niemals in ſeinen Werken. Die ganze neuere
Kunſt hat kein Gemaͤlde aufzuweiſen, worin die Aus-
theilung der Farben eine ſo gefaͤllige Wirkung thaͤte,
als dieſes Meiſters Altarbild bey den Capuzinern
zu Rom, den Paulus darſtellend, der ſein Geſicht
wieder empfaͤngt, oder das weitlaͤuftige Deckengemaͤlde

II. 24
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[369/0403] Malern der niederlaͤndiſchen Schule iſt ſehr wahr- ſcheinlich eben ſo wenig Gruͤndliches vom Harmonie- ſpiel der Farben bekannt geweſen, und ſie ſetzten an deſſen Stelle, wie erwaͤhnt worden, den Ton. Daß ſie die Wirkung der Farben, das Maaß ihrer Energie, Freundſchaft und Abneigung, noch weniger als die Venezianer eingeſehen, erhellet faſt unwider- ſprechlich aus einem großen ſchoͤnen Gemaͤlde des van Dyk in der Tribune der florentiniſchen Galerie, wo derſelbe eine unzulaͤngliche Harmonie durch will- kuͤhrlichen Gebrauch von Licht und Schatten zu er- zwecken ſuchte, ſo naͤmlich, daß mehr oder weniger Hell und Dunkel an die Stellen geſetzt iſt, wo der be- abſichtigte Endzweck durch Anwendung ſchicklicher Farben beſſer und ſicherer erreicht worden waͤre. Bey Pietro von Cortona hingegen nimmt man, da wo er es fuͤr zutraͤglich fand, ein froͤhliches mannigfaltiges Farbenſpiel wahr. Nach Erforderniß wußte er aber auch das Ganze gehoͤrig zu maͤßigen, niederzuhalten und gleichſam ins Duͤſtre oder Traurige herabzuſtimmen. Immer ſind indeſſen verwandte, be- freundete Farben, die ſich wechſelſeitig heben, neben- einander geſetzt, und widerwaͤrtige Contraſte finden ſich niemals in ſeinen Werken. Die ganze neuere Kunſt hat kein Gemaͤlde aufzuweiſen, worin die Aus- theilung der Farben eine ſo gefaͤllige Wirkung thaͤte, als dieſes Meiſters Altarbild bey den Capuzinern zu Rom, den Paulus darſtellend, der ſein Geſicht wieder empfaͤngt, oder das weitlaͤuftige Deckengemaͤlde II. 24

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/403>, abgerufen am 22.11.2024.