Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

behutsam, zeigen sich als gute Beobachter, sorgfältige
Experimentatoren, vorsichtige Sammler von Erfahrun-
gen; aber die Wahrheiten welche sie fördern, wie die
Irrthümer welche sie begehen, sind gering. Ihr Wah-
res fügt sich zu dem anerkannten Richtigen oft unbe-
merkt, oder geht verloren; ihr Falsches wird nicht auf-
genommen, oder wenn es auch geschieht, verlischt es
leicht.

Zu der ersten dieser Classen gehört Newton, zu
der zweyten die besseren seiner Gegner. Er irrt und
zwar auf eine entschiedene Weise. Erst findet er seine
Theorie plausibel, dann überzeugt er sich mit Ueberei-
lung, ehe ihm deutlich wird, welcher mühseligen Kunst-
griffe es bedürfen werde, die Anwendung seines hypo-
thetischen Apercüs durch die Erfahrung durchzuführen.
Aber schon hat er sie öffentlich ausgesprochen, und nun
verfehlt er nicht alle Gewandtheit seines Geistes aufzu-
bieten, um seine These durchzusetzen; wobey er mit
unglaublicher Kühnheit das ganz Absurde als ein aus-
gemachtes Wahre der Welt ins Angesicht behauptet.

Wir haben in der neuern Geschichte der Wissen-
schaften einen ähnlichen Fall an Tycho de Brahe. Die-
ser hatte sich gleichfalls vergriffen, indem er das Ab-
geleitete für das Ursprüngliche, das Untergeordnete für
das Herrschende in seinem Weltsystem gestellt hatte.
Auch er war zu geschwind mit dieser unhaltbaren Grille
hervorgetreten; seine Freunde und gleichzeitigen Vereh-
rer schreiben in ihren vertraulichen Briefen darüber

behutſam, zeigen ſich als gute Beobachter, ſorgfaͤltige
Experimentatoren, vorſichtige Sammler von Erfahrun-
gen; aber die Wahrheiten welche ſie foͤrdern, wie die
Irrthuͤmer welche ſie begehen, ſind gering. Ihr Wah-
res fuͤgt ſich zu dem anerkannten Richtigen oft unbe-
merkt, oder geht verloren; ihr Falſches wird nicht auf-
genommen, oder wenn es auch geſchieht, verliſcht es
leicht.

Zu der erſten dieſer Claſſen gehoͤrt Newton, zu
der zweyten die beſſeren ſeiner Gegner. Er irrt und
zwar auf eine entſchiedene Weiſe. Erſt findet er ſeine
Theorie plauſibel, dann uͤberzeugt er ſich mit Ueberei-
lung, ehe ihm deutlich wird, welcher muͤhſeligen Kunſt-
griffe es beduͤrfen werde, die Anwendung ſeines hypo-
thetiſchen Apercuͤs durch die Erfahrung durchzufuͤhren.
Aber ſchon hat er ſie oͤffentlich ausgeſprochen, und nun
verfehlt er nicht alle Gewandtheit ſeines Geiſtes aufzu-
bieten, um ſeine Theſe durchzuſetzen; wobey er mit
unglaublicher Kuͤhnheit das ganz Abſurde als ein aus-
gemachtes Wahre der Welt ins Angeſicht behauptet.

Wir haben in der neuern Geſchichte der Wiſſen-
ſchaften einen aͤhnlichen Fall an Tycho de Brahe. Die-
ſer hatte ſich gleichfalls vergriffen, indem er das Ab-
geleitete fuͤr das Urſpruͤngliche, das Untergeordnete fuͤr
das Herrſchende in ſeinem Weltſyſtem geſtellt hatte.
Auch er war zu geſchwind mit dieſer unhaltbaren Grille
hervorgetreten; ſeine Freunde und gleichzeitigen Vereh-
rer ſchreiben in ihren vertraulichen Briefen daruͤber

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0436" n="402"/>
behut&#x017F;am, zeigen &#x017F;ich als gute Beobachter, &#x017F;orgfa&#x0364;ltige<lb/>
Experimentatoren, vor&#x017F;ichtige Sammler von Erfahrun-<lb/>
gen; aber die Wahrheiten welche &#x017F;ie fo&#x0364;rdern, wie die<lb/>
Irrthu&#x0364;mer welche &#x017F;ie begehen, &#x017F;ind gering. Ihr Wah-<lb/>
res fu&#x0364;gt &#x017F;ich zu dem anerkannten Richtigen oft unbe-<lb/>
merkt, oder geht verloren; ihr Fal&#x017F;ches wird nicht auf-<lb/>
genommen, oder wenn es auch ge&#x017F;chieht, verli&#x017F;cht es<lb/>
leicht.</p><lb/>
            <p>Zu der er&#x017F;ten die&#x017F;er Cla&#x017F;&#x017F;en geho&#x0364;rt Newton, zu<lb/>
der zweyten die be&#x017F;&#x017F;eren &#x017F;einer Gegner. Er irrt und<lb/>
zwar auf eine ent&#x017F;chiedene Wei&#x017F;e. Er&#x017F;t findet er &#x017F;eine<lb/>
Theorie plau&#x017F;ibel, dann u&#x0364;berzeugt er &#x017F;ich mit Ueberei-<lb/>
lung, ehe ihm deutlich wird, welcher mu&#x0364;h&#x017F;eligen Kun&#x017F;t-<lb/>
griffe es bedu&#x0364;rfen werde, die Anwendung &#x017F;eines hypo-<lb/>
theti&#x017F;chen Apercu&#x0364;s durch die Erfahrung durchzufu&#x0364;hren.<lb/>
Aber &#x017F;chon hat er &#x017F;ie o&#x0364;ffentlich ausge&#x017F;prochen, und nun<lb/>
verfehlt er nicht alle Gewandtheit &#x017F;eines Gei&#x017F;tes aufzu-<lb/>
bieten, um &#x017F;eine The&#x017F;e durchzu&#x017F;etzen; wobey er mit<lb/>
unglaublicher Ku&#x0364;hnheit das ganz Ab&#x017F;urde als ein aus-<lb/>
gemachtes Wahre der Welt ins Ange&#x017F;icht behauptet.</p><lb/>
            <p>Wir haben in der neuern Ge&#x017F;chichte der Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaften einen a&#x0364;hnlichen Fall an Tycho de Brahe. Die-<lb/>
&#x017F;er hatte &#x017F;ich gleichfalls vergriffen, indem er das Ab-<lb/>
geleitete fu&#x0364;r das Ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche, das Untergeordnete fu&#x0364;r<lb/>
das Herr&#x017F;chende in &#x017F;einem Welt&#x017F;y&#x017F;tem ge&#x017F;tellt hatte.<lb/>
Auch er war zu ge&#x017F;chwind mit die&#x017F;er unhaltbaren Grille<lb/>
hervorgetreten; &#x017F;eine Freunde und gleichzeitigen Vereh-<lb/>
rer &#x017F;chreiben in ihren vertraulichen Briefen daru&#x0364;ber<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[402/0436] behutſam, zeigen ſich als gute Beobachter, ſorgfaͤltige Experimentatoren, vorſichtige Sammler von Erfahrun- gen; aber die Wahrheiten welche ſie foͤrdern, wie die Irrthuͤmer welche ſie begehen, ſind gering. Ihr Wah- res fuͤgt ſich zu dem anerkannten Richtigen oft unbe- merkt, oder geht verloren; ihr Falſches wird nicht auf- genommen, oder wenn es auch geſchieht, verliſcht es leicht. Zu der erſten dieſer Claſſen gehoͤrt Newton, zu der zweyten die beſſeren ſeiner Gegner. Er irrt und zwar auf eine entſchiedene Weiſe. Erſt findet er ſeine Theorie plauſibel, dann uͤberzeugt er ſich mit Ueberei- lung, ehe ihm deutlich wird, welcher muͤhſeligen Kunſt- griffe es beduͤrfen werde, die Anwendung ſeines hypo- thetiſchen Apercuͤs durch die Erfahrung durchzufuͤhren. Aber ſchon hat er ſie oͤffentlich ausgeſprochen, und nun verfehlt er nicht alle Gewandtheit ſeines Geiſtes aufzu- bieten, um ſeine Theſe durchzuſetzen; wobey er mit unglaublicher Kuͤhnheit das ganz Abſurde als ein aus- gemachtes Wahre der Welt ins Angeſicht behauptet. Wir haben in der neuern Geſchichte der Wiſſen- ſchaften einen aͤhnlichen Fall an Tycho de Brahe. Die- ſer hatte ſich gleichfalls vergriffen, indem er das Ab- geleitete fuͤr das Urſpruͤngliche, das Untergeordnete fuͤr das Herrſchende in ſeinem Weltſyſtem geſtellt hatte. Auch er war zu geſchwind mit dieſer unhaltbaren Grille hervorgetreten; ſeine Freunde und gleichzeitigen Vereh- rer ſchreiben in ihren vertraulichen Briefen daruͤber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/436
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/436>, abgerufen am 21.11.2024.