was ihr schädlich ist und ignorirt dieses, wenn er es nicht läugnen kann. Eigentlich controvertirt er nicht, sondern wiederholt nur immer seinen Gegnern: greift die Sache an, wie ich; geht auf meinem Wege; rich- tet alles ein wie ich's eingerichtet habe; seht wie ich, schließt wie ich, und so werdet ihr finden, was ich gefunden habe: alles andere ist vom Uebel. Was sollen hundert Experimente, wenn zwey oder drey meine Theorie auf das beste begründen?
Dieser Behandlungsart, diesem unbiegsamen Cha- racter ist eigentlich die Lehre ihr ganzes Glück schuldig. Da das Wort Character ausgesprochen ist, so werde einigen zudringenden Betrachtungen hier Platz ver- gönnt.
Jedes Wesen das sich als eine Einheit fühlt, will sich in seinem eigenen Zustand ungetrennt und unver- rückt erhalten. Dieß ist eine ewige nothwendige Gabe der Natur, und so kann man sagen, jedes Einzelne habe Character bis zum Wurm hinunter, der sich krümmt wenn er getreten wird. In diesem Sinne dürfen wir dem Schwachen, ja dem Feigen selbst Cha- racter zuschreiben: denn er giebt auf, was andere Menschen über alles schätzen, was aber nicht zu seiner Natur gehört: die Ehre, den Ruhm, nur damit er seine Persönlichkeit erhalte. Doch bedient man sich des Wortes Character gewöhnlich in einem höhern Sinne: wenn nämlich eine Persönlichkeit von bedeutenden Ei-
was ihr ſchaͤdlich iſt und ignorirt dieſes, wenn er es nicht laͤugnen kann. Eigentlich controvertirt er nicht, ſondern wiederholt nur immer ſeinen Gegnern: greift die Sache an, wie ich; geht auf meinem Wege; rich- tet alles ein wie ich’s eingerichtet habe; ſeht wie ich, ſchließt wie ich, und ſo werdet ihr finden, was ich gefunden habe: alles andere iſt vom Uebel. Was ſollen hundert Experimente, wenn zwey oder drey meine Theorie auf das beſte begruͤnden?
Dieſer Behandlungsart, dieſem unbiegſamen Cha- racter iſt eigentlich die Lehre ihr ganzes Gluͤck ſchuldig. Da das Wort Character ausgeſprochen iſt, ſo werde einigen zudringenden Betrachtungen hier Platz ver- goͤnnt.
Jedes Weſen das ſich als eine Einheit fuͤhlt, will ſich in ſeinem eigenen Zuſtand ungetrennt und unver- ruͤckt erhalten. Dieß iſt eine ewige nothwendige Gabe der Natur, und ſo kann man ſagen, jedes Einzelne habe Character bis zum Wurm hinunter, der ſich kruͤmmt wenn er getreten wird. In dieſem Sinne duͤrfen wir dem Schwachen, ja dem Feigen ſelbſt Cha- racter zuſchreiben: denn er giebt auf, was andere Menſchen uͤber alles ſchaͤtzen, was aber nicht zu ſeiner Natur gehoͤrt: die Ehre, den Ruhm, nur damit er ſeine Perſoͤnlichkeit erhalte. Doch bedient man ſich des Wortes Character gewoͤhnlich in einem hoͤhern Sinne: wenn naͤmlich eine Perſoͤnlichkeit von bedeutenden Ei-
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was ihr ſchaͤdlich iſt und ignorirt dieſes, wenn er es
nicht laͤugnen kann. Eigentlich controvertirt er nicht,
ſondern wiederholt nur immer ſeinen Gegnern: greift
die Sache an, wie ich; geht auf meinem Wege; rich-
tet alles ein wie ich’s eingerichtet habe; ſeht wie ich,
ſchließt wie ich, und ſo werdet ihr finden, was ich
gefunden habe: alles andere iſt vom Uebel. Was
ſollen hundert Experimente, wenn zwey oder drey meine
Theorie auf das beſte begruͤnden?
Dieſer Behandlungsart, dieſem unbiegſamen Cha-
racter iſt eigentlich die Lehre ihr ganzes Gluͤck ſchuldig.
Da das Wort Character ausgeſprochen iſt, ſo werde
einigen zudringenden Betrachtungen hier Platz ver-
goͤnnt.
Jedes Weſen das ſich als eine Einheit fuͤhlt, will
ſich in ſeinem eigenen Zuſtand ungetrennt und unver-
ruͤckt erhalten. Dieß iſt eine ewige nothwendige Gabe
der Natur, und ſo kann man ſagen, jedes Einzelne
habe Character bis zum Wurm hinunter, der ſich
kruͤmmt wenn er getreten wird. In dieſem Sinne
duͤrfen wir dem Schwachen, ja dem Feigen ſelbſt Cha-
racter zuſchreiben: denn er giebt auf, was andere
Menſchen uͤber alles ſchaͤtzen, was aber nicht zu ſeiner
Natur gehoͤrt: die Ehre, den Ruhm, nur damit er
ſeine Perſoͤnlichkeit erhalte. Doch bedient man ſich des
Wortes Character gewoͤhnlich in einem hoͤhern Sinne:
wenn naͤmlich eine Perſoͤnlichkeit von bedeutenden Ei-
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/511>, abgerufen am 22.11.2024.
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