gut es sich schicken wollte, in ein Bild zu verwandlen; ja ich fühlte hiezu, wozu ich eigentlich keine Anlage hatte, einen weit größern Trieb als zu demjenigen was mir von Natur leicht und bequem war. So gewiß ist es, daß die falschen Tendenzen den Menschen öfters mit größerer Leidenschaft entzünden, als die wahrhaften, und daß er demjenigen weit eifriger nachstrebt was ihm mißlingen muß, als was ihm gelingen könnte.
Je weniger also mir eine natürliche Anlage zur bildenden Kunst geworden war, desto mehr sah ich mich nach Gesetzen und Regeln um; ja ich achtete weit mehr auf das Technische der Malerey, als auf das Techni- sche der Dichtkunst: wie man denn durch Verstand und Einsicht dasjenige auszufüllen sucht, was die Natur Lückenhaftes an uns gelassen hat.
Je mehr ich nun durch Anschauung der Kunstwerke, in sofern sie mir im nördlichen Deutschland vor die Augen kamen, durch Unterredung mit Kennern und Reisenden, durch Lesen solcher Schriften, welche ein lange pedantisch vergrabenes Alterthum einem geistigern Anschaun entgegen zu heben versprachen, an Einsicht gewissermaßen zunahm, destomehr fühlte ich das Bo- denlose meiner Kenntnisse, und sah immer mehr ein, daß nur von einer Reise nach Italien etwas Befriedi- gendes zu hoffen seyn möchte.
Als ich endlich nach manchem Zaudern über die Alpen gelangt war, so empfand ich gar bald, bey dem
gut es ſich ſchicken wollte, in ein Bild zu verwandlen; ja ich fuͤhlte hiezu, wozu ich eigentlich keine Anlage hatte, einen weit groͤßern Trieb als zu demjenigen was mir von Natur leicht und bequem war. So gewiß iſt es, daß die falſchen Tendenzen den Menſchen oͤfters mit groͤßerer Leidenſchaft entzuͤnden, als die wahrhaften, und daß er demjenigen weit eifriger nachſtrebt was ihm mißlingen muß, als was ihm gelingen koͤnnte.
Je weniger alſo mir eine natuͤrliche Anlage zur bildenden Kunſt geworden war, deſto mehr ſah ich mich nach Geſetzen und Regeln um; ja ich achtete weit mehr auf das Techniſche der Malerey, als auf das Techni- ſche der Dichtkunſt: wie man denn durch Verſtand und Einſicht dasjenige auszufuͤllen ſucht, was die Natur Luͤckenhaftes an uns gelaſſen hat.
Je mehr ich nun durch Anſchauung der Kunſtwerke, in ſofern ſie mir im noͤrdlichen Deutſchland vor die Augen kamen, durch Unterredung mit Kennern und Reiſenden, durch Leſen ſolcher Schriften, welche ein lange pedantiſch vergrabenes Alterthum einem geiſtigern Anſchaun entgegen zu heben verſprachen, an Einſicht gewiſſermaßen zunahm, deſtomehr fuͤhlte ich das Bo- denloſe meiner Kenntniſſe, und ſah immer mehr ein, daß nur von einer Reiſe nach Italien etwas Befriedi- gendes zu hoffen ſeyn moͤchte.
Als ich endlich nach manchem Zaudern uͤber die Alpen gelangt war, ſo empfand ich gar bald, bey dem
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gut es ſich ſchicken wollte, in ein Bild zu verwandlen;
ja ich fuͤhlte hiezu, wozu ich eigentlich keine Anlage
hatte, einen weit groͤßern Trieb als zu demjenigen was
mir von Natur leicht und bequem war. So gewiß iſt
es, daß die falſchen Tendenzen den Menſchen oͤfters mit
groͤßerer Leidenſchaft entzuͤnden, als die wahrhaften,
und daß er demjenigen weit eifriger nachſtrebt was ihm
mißlingen muß, als was ihm gelingen koͤnnte.
Je weniger alſo mir eine natuͤrliche Anlage zur
bildenden Kunſt geworden war, deſto mehr ſah ich mich
nach Geſetzen und Regeln um; ja ich achtete weit mehr
auf das Techniſche der Malerey, als auf das Techni-
ſche der Dichtkunſt: wie man denn durch Verſtand und
Einſicht dasjenige auszufuͤllen ſucht, was die Natur
Luͤckenhaftes an uns gelaſſen hat.
Je mehr ich nun durch Anſchauung der Kunſtwerke,
in ſofern ſie mir im noͤrdlichen Deutſchland vor die
Augen kamen, durch Unterredung mit Kennern und
Reiſenden, durch Leſen ſolcher Schriften, welche ein
lange pedantiſch vergrabenes Alterthum einem geiſtigern
Anſchaun entgegen zu heben verſprachen, an Einſicht
gewiſſermaßen zunahm, deſtomehr fuͤhlte ich das Bo-
denloſe meiner Kenntniſſe, und ſah immer mehr ein,
daß nur von einer Reiſe nach Italien etwas Befriedi-
gendes zu hoffen ſeyn moͤchte.
Als ich endlich nach manchem Zaudern uͤber die
Alpen gelangt war, ſo empfand ich gar bald, bey dem
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 669. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/703>, abgerufen am 22.11.2024.
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