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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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nahm und zu Hause, bey manchem Zudrang fremdar-
tiger Dinge, die Kunst und alle Betrachtung derselben
fast gänzlich aus dem Auge verlor.

Sobald ich nach langer Unterbrechung endlich Mu-
ße fand, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen,
trat mir in Absicht auf Colorit dasjenige entgegen, was
mir schon in Italien nicht verborgen bleiben konnte.
Ich hatte nämlich zuletzt eingesehen, daß man den Far-
ben, als physischen Erscheinungen, erst von der Seite
der Natur beykommen müsse, wenn man in Absicht auf
Kunst etwas über sie gewinnen wolle. Wie alle Welt
war ich überzeugt, daß die sämmtlichen Farben im Licht
enthalten seyen; nie war es mir anders gesagt worden,
und niemals hatte ich die geringste Ursache gefunden,
daran zu zweifeln, weil ich bey der Sache nicht weiter
interessirt war. Auf der Akademie hatte ich mir Phy-
sik wie ein anderer vortragen und die Experimente vor-
zeigen lassen. Winkler in Leipzig, einer der ersten
der sich um Elektricität verdient machte, behandelte
diese Abtheilung sehr umständlich und mit Liebe, so daß
mir die sämmtlichen Versuche mit ihren Bedingungen
fast noch jetzt durchaus gegenwärtig sind. Die Gestelle
waren sämmtlich blau angestrichen; man brauchte aus-
schließlich blaue Seidenfäden zum Anknüpfen und Auf-
hängen der Theile des Apparats: welches mir auch im-
mer wieder, wenn ich über blaue Farbe dachte, einfiel.
Dagegen erinnere ich mich nicht, die Experimente, wo-
durch die Newtonische Theorie bewiesen werden soll, je-
mals gesehen zu haben; wie sie denn gewöhnlich in der

nahm und zu Hauſe, bey manchem Zudrang fremdar-
tiger Dinge, die Kunſt und alle Betrachtung derſelben
faſt gaͤnzlich aus dem Auge verlor.

Sobald ich nach langer Unterbrechung endlich Mu-
ße fand, den eingeſchlagenen Weg weiter zu verfolgen,
trat mir in Abſicht auf Colorit dasjenige entgegen, was
mir ſchon in Italien nicht verborgen bleiben konnte.
Ich hatte naͤmlich zuletzt eingeſehen, daß man den Far-
ben, als phyſiſchen Erſcheinungen, erſt von der Seite
der Natur beykommen muͤſſe, wenn man in Abſicht auf
Kunſt etwas uͤber ſie gewinnen wolle. Wie alle Welt
war ich uͤberzeugt, daß die ſaͤmmtlichen Farben im Licht
enthalten ſeyen; nie war es mir anders geſagt worden,
und niemals hatte ich die geringſte Urſache gefunden,
daran zu zweifeln, weil ich bey der Sache nicht weiter
intereſſirt war. Auf der Akademie hatte ich mir Phy-
ſik wie ein anderer vortragen und die Experimente vor-
zeigen laſſen. Winkler in Leipzig, einer der erſten
der ſich um Elektricitaͤt verdient machte, behandelte
dieſe Abtheilung ſehr umſtaͤndlich und mit Liebe, ſo daß
mir die ſaͤmmtlichen Verſuche mit ihren Bedingungen
faſt noch jetzt durchaus gegenwaͤrtig ſind. Die Geſtelle
waren ſaͤmmtlich blau angeſtrichen; man brauchte aus-
ſchließlich blaue Seidenfaͤden zum Anknuͤpfen und Auf-
haͤngen der Theile des Apparats: welches mir auch im-
mer wieder, wenn ich uͤber blaue Farbe dachte, einfiel.
Dagegen erinnere ich mich nicht, die Experimente, wo-
durch die Newtoniſche Theorie bewieſen werden ſoll, je-
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[674/0708] nahm und zu Hauſe, bey manchem Zudrang fremdar- tiger Dinge, die Kunſt und alle Betrachtung derſelben faſt gaͤnzlich aus dem Auge verlor. Sobald ich nach langer Unterbrechung endlich Mu- ße fand, den eingeſchlagenen Weg weiter zu verfolgen, trat mir in Abſicht auf Colorit dasjenige entgegen, was mir ſchon in Italien nicht verborgen bleiben konnte. Ich hatte naͤmlich zuletzt eingeſehen, daß man den Far- ben, als phyſiſchen Erſcheinungen, erſt von der Seite der Natur beykommen muͤſſe, wenn man in Abſicht auf Kunſt etwas uͤber ſie gewinnen wolle. Wie alle Welt war ich uͤberzeugt, daß die ſaͤmmtlichen Farben im Licht enthalten ſeyen; nie war es mir anders geſagt worden, und niemals hatte ich die geringſte Urſache gefunden, daran zu zweifeln, weil ich bey der Sache nicht weiter intereſſirt war. Auf der Akademie hatte ich mir Phy- ſik wie ein anderer vortragen und die Experimente vor- zeigen laſſen. Winkler in Leipzig, einer der erſten der ſich um Elektricitaͤt verdient machte, behandelte dieſe Abtheilung ſehr umſtaͤndlich und mit Liebe, ſo daß mir die ſaͤmmtlichen Verſuche mit ihren Bedingungen faſt noch jetzt durchaus gegenwaͤrtig ſind. Die Geſtelle waren ſaͤmmtlich blau angeſtrichen; man brauchte aus- ſchließlich blaue Seidenfaͤden zum Anknuͤpfen und Auf- haͤngen der Theile des Apparats: welches mir auch im- mer wieder, wenn ich uͤber blaue Farbe dachte, einfiel. Dagegen erinnere ich mich nicht, die Experimente, wo- durch die Newtoniſche Theorie bewieſen werden ſoll, je- mals geſehen zu haben; wie ſie denn gewoͤhnlich in der

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 674. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/708>, abgerufen am 22.11.2024.