Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

Chartenfabrik veranlaßte mich das Format von Spiel-
charten zu wählen, und indem ich Versuche beschrieb
und gleich die Gelegenheit sie anzustellen gab, glaubte
ich das Erforderliche gethan zu haben, um in irgend
einem Geiste das Apercü hervorzurufen, das in dem
meinigen so lebendig gewirkt hatte.

Allein ich kannte damals, ob ich gleich alt genug
war, die Beschränktheit der wissenschaftlichen Gilden
noch nicht, diesen Handwerkssinn, der wohl etwas er-
halten und fortpflanzen, aber nichts fördern kann, und
es waren drey Puncte die für mich schädlich wirkten.
Erstlich hatte ich mein kleines Heft: Beyträge zur Op-
tik, betitelt. Hätte ich Chromatik gesagt, so wäre
es unverfänglicher gewesen; denn da die Optik
zum größten Theil mathematisch ist, so konnte und
wollte Niemand begreifen, wie einer der keine An-
sprüche an Meßkunst machte, in der Optik wirken
könne. Zweytens hatte ich, zwar nur ganz leise, an-
gedeutet, daß ich die Newtonische Theorie nicht zu-
länglich hielte, die vorgetragenen Phänomene zu er-
klären. Hierdurch regte ich die ganze Schule gegen
mich auf und nun verwunderte man sich erst höchlich,
wie Jemand, ohne höhere Einsicht in die Mathematik,
wagen könne, Newton zu widersprechen. Denn daß
eine Physik unabhängig von der Mathematik existire,
davon schien man keinen Begriff mehr zu haben. Die
uralte Wahrheit, daß der Mathematiker sobald er in
das Feld der Erfahrung tritt, so gut wie jeder andere
dem Irrthum unterworfen sey, wollte Niemand in die-

Chartenfabrik veranlaßte mich das Format von Spiel-
charten zu waͤhlen, und indem ich Verſuche beſchrieb
und gleich die Gelegenheit ſie anzuſtellen gab, glaubte
ich das Erforderliche gethan zu haben, um in irgend
einem Geiſte das Aperçuͤ hervorzurufen, das in dem
meinigen ſo lebendig gewirkt hatte.

Allein ich kannte damals, ob ich gleich alt genug
war, die Beſchraͤnktheit der wiſſenſchaftlichen Gilden
noch nicht, dieſen Handwerksſinn, der wohl etwas er-
halten und fortpflanzen, aber nichts foͤrdern kann, und
es waren drey Puncte die fuͤr mich ſchaͤdlich wirkten.
Erſtlich hatte ich mein kleines Heft: Beytraͤge zur Op-
tik, betitelt. Haͤtte ich Chromatik geſagt, ſo waͤre
es unverfaͤnglicher geweſen; denn da die Optik
zum groͤßten Theil mathematiſch iſt, ſo konnte und
wollte Niemand begreifen, wie einer der keine An-
ſpruͤche an Meßkunſt machte, in der Optik wirken
koͤnne. Zweytens hatte ich, zwar nur ganz leiſe, an-
gedeutet, daß ich die Newtoniſche Theorie nicht zu-
laͤnglich hielte, die vorgetragenen Phaͤnomene zu er-
klaͤren. Hierdurch regte ich die ganze Schule gegen
mich auf und nun verwunderte man ſich erſt hoͤchlich,
wie Jemand, ohne hoͤhere Einſicht in die Mathematik,
wagen koͤnne, Newton zu widerſprechen. Denn daß
eine Phyſik unabhaͤngig von der Mathematik exiſtire,
davon ſchien man keinen Begriff mehr zu haben. Die
uralte Wahrheit, daß der Mathematiker ſobald er in
das Feld der Erfahrung tritt, ſo gut wie jeder andere
dem Irrthum unterworfen ſey, wollte Niemand in die-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0720" n="686"/>
Chartenfabrik veranlaßte mich das Format von Spiel-<lb/>
charten zu wa&#x0364;hlen, und indem ich Ver&#x017F;uche be&#x017F;chrieb<lb/>
und gleich die Gelegenheit &#x017F;ie anzu&#x017F;tellen gab, glaubte<lb/>
ich das Erforderliche gethan zu haben, um in irgend<lb/>
einem Gei&#x017F;te das Aper<hi rendition="#aq">ç</hi>u&#x0364; hervorzurufen, das in dem<lb/>
meinigen &#x017F;o lebendig gewirkt hatte.</p><lb/>
            <p>Allein ich kannte damals, ob ich gleich alt genug<lb/>
war, die Be&#x017F;chra&#x0364;nktheit der wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Gilden<lb/>
noch nicht, die&#x017F;en Handwerks&#x017F;inn, der wohl etwas er-<lb/>
halten und fortpflanzen, aber nichts fo&#x0364;rdern kann, und<lb/>
es waren drey Puncte die fu&#x0364;r mich &#x017F;cha&#x0364;dlich wirkten.<lb/>
Er&#x017F;tlich hatte ich mein kleines Heft: Beytra&#x0364;ge zur Op-<lb/>
tik, betitelt. Ha&#x0364;tte ich Chromatik ge&#x017F;agt, &#x017F;o wa&#x0364;re<lb/>
es unverfa&#x0364;nglicher gewe&#x017F;en; denn da die Optik<lb/>
zum gro&#x0364;ßten Theil mathemati&#x017F;ch i&#x017F;t, &#x017F;o konnte und<lb/>
wollte Niemand begreifen, wie einer der keine An-<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;che an Meßkun&#x017F;t machte, in der Optik wirken<lb/>
ko&#x0364;nne. Zweytens hatte ich, zwar nur ganz lei&#x017F;e, an-<lb/>
gedeutet, daß ich die Newtoni&#x017F;che Theorie nicht zu-<lb/>
la&#x0364;nglich hielte, die vorgetragenen Pha&#x0364;nomene zu er-<lb/>
kla&#x0364;ren. Hierdurch regte ich die ganze Schule gegen<lb/>
mich auf und nun verwunderte man &#x017F;ich er&#x017F;t ho&#x0364;chlich,<lb/>
wie Jemand, ohne ho&#x0364;here Ein&#x017F;icht in die Mathematik,<lb/>
wagen ko&#x0364;nne, Newton zu wider&#x017F;prechen. Denn daß<lb/>
eine Phy&#x017F;ik unabha&#x0364;ngig von der Mathematik exi&#x017F;tire,<lb/>
davon &#x017F;chien man keinen Begriff mehr zu haben. Die<lb/>
uralte Wahrheit, daß der Mathematiker &#x017F;obald er in<lb/>
das Feld der Erfahrung tritt, &#x017F;o gut wie jeder andere<lb/>
dem Irrthum unterworfen &#x017F;ey, wollte Niemand in die-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[686/0720] Chartenfabrik veranlaßte mich das Format von Spiel- charten zu waͤhlen, und indem ich Verſuche beſchrieb und gleich die Gelegenheit ſie anzuſtellen gab, glaubte ich das Erforderliche gethan zu haben, um in irgend einem Geiſte das Aperçuͤ hervorzurufen, das in dem meinigen ſo lebendig gewirkt hatte. Allein ich kannte damals, ob ich gleich alt genug war, die Beſchraͤnktheit der wiſſenſchaftlichen Gilden noch nicht, dieſen Handwerksſinn, der wohl etwas er- halten und fortpflanzen, aber nichts foͤrdern kann, und es waren drey Puncte die fuͤr mich ſchaͤdlich wirkten. Erſtlich hatte ich mein kleines Heft: Beytraͤge zur Op- tik, betitelt. Haͤtte ich Chromatik geſagt, ſo waͤre es unverfaͤnglicher geweſen; denn da die Optik zum groͤßten Theil mathematiſch iſt, ſo konnte und wollte Niemand begreifen, wie einer der keine An- ſpruͤche an Meßkunſt machte, in der Optik wirken koͤnne. Zweytens hatte ich, zwar nur ganz leiſe, an- gedeutet, daß ich die Newtoniſche Theorie nicht zu- laͤnglich hielte, die vorgetragenen Phaͤnomene zu er- klaͤren. Hierdurch regte ich die ganze Schule gegen mich auf und nun verwunderte man ſich erſt hoͤchlich, wie Jemand, ohne hoͤhere Einſicht in die Mathematik, wagen koͤnne, Newton zu widerſprechen. Denn daß eine Phyſik unabhaͤngig von der Mathematik exiſtire, davon ſchien man keinen Begriff mehr zu haben. Die uralte Wahrheit, daß der Mathematiker ſobald er in das Feld der Erfahrung tritt, ſo gut wie jeder andere dem Irrthum unterworfen ſey, wollte Niemand in die-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/720
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 686. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/720>, abgerufen am 22.11.2024.