Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787.Ein Schauspiel. So legt die taube Noth ein doppelt LasterMit ehrner Hand mir auf: das heilige, Mir anvertraute, viel verehrte Bild Zu rauben und den Mann zu hintergehn, Dem ich mein Leben und mein Schicksal danke. O daß in meinem Busen nicht zuletzt Ein Widerwillen keime! der Titanen, Der alten Götter tiefer Haß auf euch, Olympier, nicht auch die zarte Brust Mit Geierklauen fasse! Rettet mich, Und rettet euer Bild in meiner Seele! Vor meinen Ohren tönt das alte Lied -- Vergessen hatt' ich's und vergaß es gern -- Das Lied der Parcen, das sie grausend sangen, Als Tantalus vom gold'nen Stuhle fiel: Sie litten mit dem edlen Freunde; grimmig War ihre Brust, und furchtbar ihr Gesang. In unsrer Jugend sang's die Amme mir Und den Geschwistern vor, ich merkt' es wohl. Ein Schauſpiel. So legt die taube Noth ein doppelt LaſterMit ehrner Hand mir auf: das heilige, Mir anvertraute, viel verehrte Bild Zu rauben und den Mann zu hintergehn, Dem ich mein Leben und mein Schickſal danke. O daß in meinem Buſen nicht zuletzt Ein Widerwillen keime! der Titanen, Der alten Götter tiefer Haß auf euch, Olympier, nicht auch die zarte Bruſt Mit Geierklauen faſſe! Rettet mich, Und rettet euer Bild in meiner Seele! Vor meinen Ohren tönt das alte Lied — Vergeſſen hatt’ ich’s und vergaß es gern — Das Lied der Parcen, das ſie grauſend ſangen, Als Tantalus vom gold’nen Stuhle fiel: Sie litten mit dem edlen Freunde; grimmig War ihre Bruſt, und furchtbar ihr Geſang. In unſrer Jugend ſang’s die Amme mir Und den Geſchwiſtern vor, ich merkt’ es wohl. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <sp who="#IPH"> <p><pb facs="#f0114" n="105"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ein Schauſpiel</hi>.</fw><lb/> So legt die taube Noth ein doppelt Laſter<lb/> Mit ehrner Hand mir auf: das heilige,<lb/> Mir anvertraute, viel verehrte Bild<lb/> Zu rauben und den Mann zu hintergehn,<lb/> Dem ich mein Leben und mein Schickſal danke.<lb/> O daß in meinem Buſen nicht zuletzt<lb/> Ein Widerwillen keime! der Titanen,<lb/> Der alten Götter tiefer Haß auf euch,<lb/> Olympier, nicht auch die zarte Bruſt<lb/> Mit Geierklauen faſſe! Rettet mich,<lb/> Und rettet euer Bild in meiner Seele!</p><lb/> <p>Vor meinen Ohren tönt das alte Lied —<lb/> Vergeſſen hatt’ ich’s und vergaß es gern —<lb/> Das Lied der Parcen, das ſie grauſend ſangen,<lb/> Als Tantalus vom gold’nen Stuhle fiel:<lb/> Sie litten mit dem edlen Freunde; grimmig<lb/> War ihre Bruſt, und furchtbar ihr Geſang.<lb/> In unſrer Jugend ſang’s die Amme mir<lb/> Und den Geſchwiſtern vor, ich merkt’ es wohl.</p><lb/> </sp> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [105/0114]
Ein Schauſpiel.
So legt die taube Noth ein doppelt Laſter
Mit ehrner Hand mir auf: das heilige,
Mir anvertraute, viel verehrte Bild
Zu rauben und den Mann zu hintergehn,
Dem ich mein Leben und mein Schickſal danke.
O daß in meinem Buſen nicht zuletzt
Ein Widerwillen keime! der Titanen,
Der alten Götter tiefer Haß auf euch,
Olympier, nicht auch die zarte Bruſt
Mit Geierklauen faſſe! Rettet mich,
Und rettet euer Bild in meiner Seele!
Vor meinen Ohren tönt das alte Lied —
Vergeſſen hatt’ ich’s und vergaß es gern —
Das Lied der Parcen, das ſie grauſend ſangen,
Als Tantalus vom gold’nen Stuhle fiel:
Sie litten mit dem edlen Freunde; grimmig
War ihre Bruſt, und furchtbar ihr Geſang.
In unſrer Jugend ſang’s die Amme mir
Und den Geſchwiſtern vor, ich merkt’ es wohl.
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