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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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Auf diesen geschäftsthätigen Mann, wel¬
cher wenig las, hatte der Messias gleich bey
seiner Erscheinung einen mächtigen Eindruck
gemacht. Diese so natürlich ausgedrückten
und doch so schön veredelten frommen Ge¬
fühle, diese gefällige Sprache, wenn man sie
auch nur für harmonische Prosa gelten ließ,
hatten den übrigens trocknen Geschäftsmann
so gewonnen, daß er die zehn ersten Gesänge,
denn von diesen ist eigentlich die Rede, als
das herrlichste Erbauungsbuch betrachtete, und
solches alle Jahre Einmal in der Charwoche,
in welcher er sich von allen Geschäften zu
entbinden wußte, für sich im Stillen durch¬
las und sich daran fürs ganze Jahr erquickte.
Anfangs dachte er seine Empfindungen seinem
alten Freunde mitzutheilen; allein er fand
sich sehr bestürzt, als er eine unheilbare Ab¬
neigung vor einem Werke von so köstlichem
Gehalt, wegen einer wie es ihm schien gleich¬
gültigen äußern Form, gewahr werden mußte.
Es fehlte, wie sich leicht denken läßt, nicht

Auf dieſen geſchaͤftsthaͤtigen Mann, wel¬
cher wenig las, hatte der Meſſias gleich bey
ſeiner Erſcheinung einen maͤchtigen Eindruck
gemacht. Dieſe ſo natuͤrlich ausgedruͤckten
und doch ſo ſchoͤn veredelten frommen Ge¬
fuͤhle, dieſe gefaͤllige Sprache, wenn man ſie
auch nur fuͤr harmoniſche Proſa gelten ließ,
hatten den uͤbrigens trocknen Geſchaͤftsmann
ſo gewonnen, daß er die zehn erſten Geſaͤnge,
denn von dieſen iſt eigentlich die Rede, als
das herrlichſte Erbauungsbuch betrachtete, und
ſolches alle Jahre Einmal in der Charwoche,
in welcher er ſich von allen Geſchaͤften zu
entbinden wußte, fuͤr ſich im Stillen durch¬
las und ſich daran fuͤrs ganze Jahr erquickte.
Anfangs dachte er ſeine Empfindungen ſeinem
alten Freunde mitzutheilen; allein er fand
ſich ſehr beſtuͤrzt, als er eine unheilbare Ab¬
neigung vor einem Werke von ſo koͤſtlichem
Gehalt, wegen einer wie es ihm ſchien gleich¬
guͤltigen aͤußern Form, gewahr werden mußte.
Es fehlte, wie ſich leicht denken laͤßt, nicht

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[176/0192] Auf dieſen geſchaͤftsthaͤtigen Mann, wel¬ cher wenig las, hatte der Meſſias gleich bey ſeiner Erſcheinung einen maͤchtigen Eindruck gemacht. Dieſe ſo natuͤrlich ausgedruͤckten und doch ſo ſchoͤn veredelten frommen Ge¬ fuͤhle, dieſe gefaͤllige Sprache, wenn man ſie auch nur fuͤr harmoniſche Proſa gelten ließ, hatten den uͤbrigens trocknen Geſchaͤftsmann ſo gewonnen, daß er die zehn erſten Geſaͤnge, denn von dieſen iſt eigentlich die Rede, als das herrlichſte Erbauungsbuch betrachtete, und ſolches alle Jahre Einmal in der Charwoche, in welcher er ſich von allen Geſchaͤften zu entbinden wußte, fuͤr ſich im Stillen durch¬ las und ſich daran fuͤrs ganze Jahr erquickte. Anfangs dachte er ſeine Empfindungen ſeinem alten Freunde mitzutheilen; allein er fand ſich ſehr beſtuͤrzt, als er eine unheilbare Ab¬ neigung vor einem Werke von ſo koͤſtlichem Gehalt, wegen einer wie es ihm ſchien gleich¬ guͤltigen aͤußern Form, gewahr werden mußte. Es fehlte, wie ſich leicht denken laͤßt, nicht

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/192>, abgerufen am 21.11.2024.