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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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Manchmal, wenn die Mutter auf den
Proben oder in Gesellschaft war, fanden wir
uns in ihrer Wohnung zusammen, um zu
spielen oder uns zu unterhalten. Ich ging
niemals hin, ohne der Schönen eine Blume,
eine Frucht oder sonst etwas zu überreichen,
welches sie zwar jederzeit mit sehr guter Art
annahm und auf das höflichste dankte; al¬
lein ich sah ihren traurigen Blick sich nie¬
mals erheitern, und fand keine Spur, daß
sie sonst auf mich geachtet hätte. Endlich
glaubte ich ihr Geheimniß zu entdecken. Der
Knabe zeigte mir hinter dem Bette seiner
Mutter, das mit eleganten seidnen Vorhän¬
gen aufgeputzt war, ein Pastellbild, das Por¬
trät eines schönen Mannes, und bemerkte zu¬
gleich mit schlauer Miene: das sey eigentlich
nicht der Papa, aber eben so gut wie der
Papa; und indem er diesen Mann rühmte,
und nach seiner Art umständlich und prahle¬
risch manches erzählte: so glaubte ich heraus¬
zufinden, daß die Tochter wohl dem Vater,

I. 14

Manchmal, wenn die Mutter auf den
Proben oder in Geſellſchaft war, fanden wir
uns in ihrer Wohnung zuſammen, um zu
ſpielen oder uns zu unterhalten. Ich ging
niemals hin, ohne der Schoͤnen eine Blume,
eine Frucht oder ſonſt etwas zu uͤberreichen,
welches ſie zwar jederzeit mit ſehr guter Art
annahm und auf das hoͤflichſte dankte; al¬
lein ich ſah ihren traurigen Blick ſich nie¬
mals erheitern, und fand keine Spur, daß
ſie ſonſt auf mich geachtet haͤtte. Endlich
glaubte ich ihr Geheimniß zu entdecken. Der
Knabe zeigte mir hinter dem Bette ſeiner
Mutter, das mit eleganten ſeidnen Vorhaͤn¬
gen aufgeputzt war, ein Paſtellbild, das Por¬
traͤt eines ſchoͤnen Mannes, und bemerkte zu¬
gleich mit ſchlauer Miene: das ſey eigentlich
nicht der Papa, aber eben ſo gut wie der
Papa; und indem er dieſen Mann ruͤhmte,
und nach ſeiner Art umſtaͤndlich und prahle¬
riſch manches erzaͤhlte: ſo glaubte ich heraus¬
zufinden, daß die Tochter wohl dem Vater,

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[209/0225] Manchmal, wenn die Mutter auf den Proben oder in Geſellſchaft war, fanden wir uns in ihrer Wohnung zuſammen, um zu ſpielen oder uns zu unterhalten. Ich ging niemals hin, ohne der Schoͤnen eine Blume, eine Frucht oder ſonſt etwas zu uͤberreichen, welches ſie zwar jederzeit mit ſehr guter Art annahm und auf das hoͤflichſte dankte; al¬ lein ich ſah ihren traurigen Blick ſich nie¬ mals erheitern, und fand keine Spur, daß ſie ſonſt auf mich geachtet haͤtte. Endlich glaubte ich ihr Geheimniß zu entdecken. Der Knabe zeigte mir hinter dem Bette ſeiner Mutter, das mit eleganten ſeidnen Vorhaͤn¬ gen aufgeputzt war, ein Paſtellbild, das Por¬ traͤt eines ſchoͤnen Mannes, und bemerkte zu¬ gleich mit ſchlauer Miene: das ſey eigentlich nicht der Papa, aber eben ſo gut wie der Papa; und indem er dieſen Mann ruͤhmte, und nach ſeiner Art umſtaͤndlich und prahle¬ riſch manches erzaͤhlte: ſo glaubte ich heraus¬ zufinden, daß die Tochter wohl dem Vater, I. 14

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/225>, abgerufen am 26.11.2024.