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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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sinnten erwarteten mit Sehnsucht ihre Be¬
freyung von der bisherigen Last. Mein Va¬
ter war etwas heiterer, meine Mutter in
Sorgen. Sie war klug genug einzuse¬
hen, daß ein gegenwärtiges geringes Uebel
leicht mit einem großen Ungemach vertauscht
werden könne: denn es zeigte sich nur allzu
deutlich, daß man dem Herzog nicht entge¬
gen gehen, sondern einen Angriff in der
Nähe der Stadt abwarten werde. Eine
Niederlage der Franzosen, eine Flucht, eine
Vertheidigung der Stadt, wäre es auch nur
um den Rückzug zu decken und um die
Brücke zu behalten, ein Bombardement, eine
Plünderung, alles stellte sich der erregten
Einbildungskraft dar, und machte beyden
Parteyen Sorge. Meine Mutter, welche
alles, nur nicht die Sorge ertragen konnte,
ließ durch den Dolmetscher ihre Furcht bey
dem Grafen anbringen; worauf sie die in
solchen Fällen gebräuchliche Antwort erhielt:
sie solle ganz ruhig seyn, es sey nichts zu

ſinnten erwarteten mit Sehnſucht ihre Be¬
freyung von der bisherigen Laſt. Mein Va¬
ter war etwas heiterer, meine Mutter in
Sorgen. Sie war klug genug einzuſe¬
hen, daß ein gegenwaͤrtiges geringes Uebel
leicht mit einem großen Ungemach vertauſcht
werden koͤnne: denn es zeigte ſich nur allzu
deutlich, daß man dem Herzog nicht entge¬
gen gehen, ſondern einen Angriff in der
Naͤhe der Stadt abwarten werde. Eine
Niederlage der Franzoſen, eine Flucht, eine
Vertheidigung der Stadt, waͤre es auch nur
um den Ruͤckzug zu decken und um die
Bruͤcke zu behalten, ein Bombardement, eine
Pluͤnderung, alles ſtellte ſich der erregten
Einbildungskraft dar, und machte beyden
Parteyen Sorge. Meine Mutter, welche
alles, nur nicht die Sorge ertragen konnte,
ließ durch den Dolmetſcher ihre Furcht bey
dem Grafen anbringen; worauf ſie die in
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[221/0237] ſinnten erwarteten mit Sehnſucht ihre Be¬ freyung von der bisherigen Laſt. Mein Va¬ ter war etwas heiterer, meine Mutter in Sorgen. Sie war klug genug einzuſe¬ hen, daß ein gegenwaͤrtiges geringes Uebel leicht mit einem großen Ungemach vertauſcht werden koͤnne: denn es zeigte ſich nur allzu deutlich, daß man dem Herzog nicht entge¬ gen gehen, ſondern einen Angriff in der Naͤhe der Stadt abwarten werde. Eine Niederlage der Franzoſen, eine Flucht, eine Vertheidigung der Stadt, waͤre es auch nur um den Ruͤckzug zu decken und um die Bruͤcke zu behalten, ein Bombardement, eine Pluͤnderung, alles ſtellte ſich der erregten Einbildungskraft dar, und machte beyden Parteyen Sorge. Meine Mutter, welche alles, nur nicht die Sorge ertragen konnte, ließ durch den Dolmetſcher ihre Furcht bey dem Grafen anbringen; worauf ſie die in ſolchen Faͤllen gebraͤuchliche Antwort erhielt: ſie ſolle ganz ruhig ſeyn, es ſey nichts zu

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/237>, abgerufen am 25.11.2024.