Tugend im Unglück wurden zuletzt durch die poetische Gerechtigkeit wieder ins Gleichge¬ wicht gebracht. Die schönen Beyspiele von bestraften Vergehungen, Miß Sara Samp¬ son und der Kaufmann von London, wurden sehr lebhaft von mir hervorgehoben; aber ich zog dagegen öfters den Kürzern, wenn die Schelmstreiche Scapins und dergleichen auf dem Zettel standen, und ich mir das Beha¬ gen mußte vorwerfen lassen, das man über die Betrügereyen ränkevoller Knechte, und über den guten Erfolg der Thorheiten aus¬ gelassener Jünglinge im Publicum empfinde. Beyde Parteyen überzeugten einander nicht; doch wurde mein Vater sehr bald mit der Bühne ausgesöhnt, als er sah, daß ich mit unglaublicher Schnelligkeit in der französischen Sprache zunahm.
Die Menschen sind nun einmal so, daß Jeder was er thun sieht, lieber selbst vor¬ nähme, er habe nun Geschick dazu oder
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Tugend im Ungluͤck wurden zuletzt durch die poetiſche Gerechtigkeit wieder ins Gleichge¬ wicht gebracht. Die ſchoͤnen Beyſpiele von beſtraften Vergehungen, Miß Sara Samp¬ ſon und der Kaufmann von London, wurden ſehr lebhaft von mir hervorgehoben; aber ich zog dagegen oͤfters den Kuͤrzern, wenn die Schelmſtreiche Scapins und dergleichen auf dem Zettel ſtanden, und ich mir das Beha¬ gen mußte vorwerfen laſſen, das man uͤber die Betruͤgereyen raͤnkevoller Knechte, und uͤber den guten Erfolg der Thorheiten aus¬ gelaſſener Juͤnglinge im Publicum empfinde. Beyde Parteyen uͤberzeugten einander nicht; doch wurde mein Vater ſehr bald mit der Buͤhne ausgeſoͤhnt, als er ſah, daß ich mit unglaublicher Schnelligkeit in der franzoͤſiſchen Sprache zunahm.
Die Menſchen ſind nun einmal ſo, daß Jeder was er thun ſieht, lieber ſelbſt vor¬ naͤhme, er habe nun Geſchick dazu oder
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Tugend im Ungluͤck wurden zuletzt durch die
poetiſche Gerechtigkeit wieder ins Gleichge¬
wicht gebracht. Die ſchoͤnen Beyſpiele von
beſtraften Vergehungen, Miß Sara Samp¬
ſon und der Kaufmann von London, wurden
ſehr lebhaft von mir hervorgehoben; aber ich
zog dagegen oͤfters den Kuͤrzern, wenn die
Schelmſtreiche Scapins und dergleichen auf
dem Zettel ſtanden, und ich mir das Beha¬
gen mußte vorwerfen laſſen, das man uͤber
die Betruͤgereyen raͤnkevoller Knechte, und
uͤber den guten Erfolg der Thorheiten aus¬
gelaſſener Juͤnglinge im Publicum empfinde.
Beyde Parteyen uͤberzeugten einander nicht;
doch wurde mein Vater ſehr bald mit der
Buͤhne ausgeſoͤhnt, als er ſah, daß ich mit
unglaublicher Schnelligkeit in der franzoͤſiſchen
Sprache zunahm.
Die Menſchen ſind nun einmal ſo, daß
Jeder was er thun ſieht, lieber ſelbſt vor¬
naͤhme, er habe nun Geſchick dazu oder
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/259>, abgerufen am 24.11.2024.
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