Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

gemeiniglich auf der Seite der Creditoren,
mußten aber zu ihrem Verdruß gewöhnlich
erfahren, daß die Mehrheit der bey solcher
Gelegenheit Abgeordneten für die Seite der
Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der
Legationsrath theilte seine Kenntnisse gern mit,
war ein Freund der Mathematik, und weil
diese in seinem gegenwärtigen Lebensgange gar
nicht vorkam, so machte er sich ein Vergnügen
daraus, mir in diesen Kenntnissen weiter zu
helfen. Dadurch ward ich in den Stand
gesetzt, meine architectonischen Risse genauer
als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht
eines Zeichenmeisters, der uns jetzt auch täglich
eine Stunde beschäftigte, besser zu nutzen.

Dieser gute alte Mann war freylich nur
ein Halbkünstler. Wir mußten Striche machen
und sie zusammensetzen, woraus denn Augen
und Nasen, Lippen und Ohren, ja zuletzt
ganze Gesichter und Köpfe entstehen sollten;
allein es war dabey weder an natürliche

gemeiniglich auf der Seite der Creditoren,
mußten aber zu ihrem Verdruß gewoͤhnlich
erfahren, daß die Mehrheit der bey ſolcher
Gelegenheit Abgeordneten fuͤr die Seite der
Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der
Legationsrath theilte ſeine Kenntniſſe gern mit,
war ein Freund der Mathematik, und weil
dieſe in ſeinem gegenwaͤrtigen Lebensgange gar
nicht vorkam, ſo machte er ſich ein Vergnuͤgen
daraus, mir in dieſen Kenntniſſen weiter zu
helfen. Dadurch ward ich in den Stand
geſetzt, meine architectoniſchen Riſſe genauer
als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht
eines Zeichenmeiſters, der uns jetzt auch taͤglich
eine Stunde beſchaͤftigte, beſſer zu nutzen.

Dieſer gute alte Mann war freylich nur
ein Halbkuͤnſtler. Wir mußten Striche machen
und ſie zuſammenſetzen, woraus denn Augen
und Naſen, Lippen und Ohren, ja zuletzt
ganze Geſichter und Koͤpfe entſtehen ſollten;
allein es war dabey weder an natuͤrliche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0281" n="265"/>
gemeiniglich auf der Seite der Creditoren,<lb/>
mußten aber zu ihrem Verdruß gewo&#x0364;hnlich<lb/>
erfahren, daß die Mehrheit der bey &#x017F;olcher<lb/>
Gelegenheit Abgeordneten fu&#x0364;r die Seite der<lb/>
Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der<lb/>
Legationsrath theilte &#x017F;eine Kenntni&#x017F;&#x017F;e gern mit,<lb/>
war ein Freund der Mathematik, und weil<lb/>
die&#x017F;e in &#x017F;einem gegenwa&#x0364;rtigen Lebensgange gar<lb/>
nicht vorkam, &#x017F;o machte er &#x017F;ich ein Vergnu&#x0364;gen<lb/>
daraus, mir in die&#x017F;en Kenntni&#x017F;&#x017F;en weiter zu<lb/>
helfen. Dadurch ward ich in den Stand<lb/>
ge&#x017F;etzt, meine architectoni&#x017F;chen Ri&#x017F;&#x017F;e genauer<lb/>
als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht<lb/>
eines Zeichenmei&#x017F;ters, der uns jetzt auch ta&#x0364;glich<lb/>
eine Stunde be&#x017F;cha&#x0364;ftigte, be&#x017F;&#x017F;er zu nutzen.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;er gute alte Mann war freylich nur<lb/>
ein Halbku&#x0364;n&#x017F;tler. Wir mußten Striche machen<lb/>
und &#x017F;ie zu&#x017F;ammen&#x017F;etzen, woraus denn Augen<lb/>
und Na&#x017F;en, Lippen und Ohren, ja zuletzt<lb/>
ganze Ge&#x017F;ichter und Ko&#x0364;pfe ent&#x017F;tehen &#x017F;ollten;<lb/>
allein es war dabey weder an natu&#x0364;rliche<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[265/0281] gemeiniglich auf der Seite der Creditoren, mußten aber zu ihrem Verdruß gewoͤhnlich erfahren, daß die Mehrheit der bey ſolcher Gelegenheit Abgeordneten fuͤr die Seite der Debitoren gewonnen zu werden pflegt. Der Legationsrath theilte ſeine Kenntniſſe gern mit, war ein Freund der Mathematik, und weil dieſe in ſeinem gegenwaͤrtigen Lebensgange gar nicht vorkam, ſo machte er ſich ein Vergnuͤgen daraus, mir in dieſen Kenntniſſen weiter zu helfen. Dadurch ward ich in den Stand geſetzt, meine architectoniſchen Riſſe genauer als bisher auszuarbeiten, und den Unterricht eines Zeichenmeiſters, der uns jetzt auch taͤglich eine Stunde beſchaͤftigte, beſſer zu nutzen. Dieſer gute alte Mann war freylich nur ein Halbkuͤnſtler. Wir mußten Striche machen und ſie zuſammenſetzen, woraus denn Augen und Naſen, Lippen und Ohren, ja zuletzt ganze Geſichter und Koͤpfe entſtehen ſollten; allein es war dabey weder an natuͤrliche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/281
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/281>, abgerufen am 24.11.2024.