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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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noch künstliche Form gedacht. Wir wurden
eine Zeitlang mit diesem Qui pro Quo der
menschlichen Gestalt gequält, und man glaubte
uns zuletzt sehr weit gebracht zu haben, als
wir die sogenannten Affecten von Le Brün
zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch diese
Zerrbilder förderten uns nicht. Nun schwank¬
ten wir zu den Landschaften, zum Baumschlag
und zu allen den Dingen, die im gewöhnli¬
chen Unterricht ohne Folge und ohne Methode
geübt werden. Zuletzt fielen wir auf die
genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit
der Striche, ohne uns weiter um den Werth
des Originals oder dessen Geschmack zu
bekümmern.

In diesem Bestreben ging uns der Vater
auf eine musterhafte Weise vor. Er hatte
nie gezeichnet, wollte nun aber, da seine
Kinder diese Kunst trieben, nicht zurückblei¬
ben, sondern ihnen, selbst in seinem Alter,
ein Beyspiel geben, wie sie in ihrer Jugend

noch kuͤnſtliche Form gedacht. Wir wurden
eine Zeitlang mit dieſem Qui pro Quo der
menſchlichen Geſtalt gequaͤlt, und man glaubte
uns zuletzt ſehr weit gebracht zu haben, als
wir die ſogenannten Affecten von Le Bruͤn
zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch dieſe
Zerrbilder foͤrderten uns nicht. Nun ſchwank¬
ten wir zu den Landſchaften, zum Baumſchlag
und zu allen den Dingen, die im gewoͤhnli¬
chen Unterricht ohne Folge und ohne Methode
geuͤbt werden. Zuletzt fielen wir auf die
genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit
der Striche, ohne uns weiter um den Werth
des Originals oder deſſen Geſchmack zu
bekuͤmmern.

In dieſem Beſtreben ging uns der Vater
auf eine muſterhafte Weiſe vor. Er hatte
nie gezeichnet, wollte nun aber, da ſeine
Kinder dieſe Kunſt trieben, nicht zuruͤckblei¬
ben, ſondern ihnen, ſelbſt in ſeinem Alter,
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[266/0282] noch kuͤnſtliche Form gedacht. Wir wurden eine Zeitlang mit dieſem Qui pro Quo der menſchlichen Geſtalt gequaͤlt, und man glaubte uns zuletzt ſehr weit gebracht zu haben, als wir die ſogenannten Affecten von Le Bruͤn zur Nachzeichnung erhielten. Aber auch dieſe Zerrbilder foͤrderten uns nicht. Nun ſchwank¬ ten wir zu den Landſchaften, zum Baumſchlag und zu allen den Dingen, die im gewoͤhnli¬ chen Unterricht ohne Folge und ohne Methode geuͤbt werden. Zuletzt fielen wir auf die genaue Nachahmung und auf die Sauberkeit der Striche, ohne uns weiter um den Werth des Originals oder deſſen Geſchmack zu bekuͤmmern. In dieſem Beſtreben ging uns der Vater auf eine muſterhafte Weiſe vor. Er hatte nie gezeichnet, wollte nun aber, da ſeine Kinder dieſe Kunſt trieben, nicht zuruͤckblei¬ ben, ſondern ihnen, ſelbſt in ſeinem Alter, ein Beyſpiel geben, wie ſie in ihrer Jugend

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/282>, abgerufen am 24.11.2024.