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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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beschäftigungen bliebe. Nun bekenne ich, daß
es mir immer lästiger wurde, bald aus dieser
bald aus jener Grammatik oder Beyspiel¬
sammlung, bald aus diesem oder jenem Autor
den Anlaß zu meinen Arbeiten zu nehmen, und
so meinen Antheil an den Gegenständen zugleich
mit den Stunden zu verzetteln. Ich kam daher
auf den Gedanken alles mit einmal abzuthun,
und erfand einen Roman von sechs bis sieben
Geschwistern, die von einander entfernt und
in der Welt zerstreut sich wechselseitig Nach¬
richt von ihren Zuständen und Empfindungen
mittheilen. Der älteste Bruder giebt in gutem
Deutsch Bericht von allerley Gegenständen
und Ereignissen seiner Reise. Die Schwester,
in einem frauenzimmerlichen Styl, mit lau¬
ter Puncten und in kurzen Sätzen, unge¬
fähr wie nachher Siegwart geschrieben wur¬
de, erwiedert bald ihm, bald den andern
Geschwistern, was sie theils von häusli¬
chen Verhältnissen, theils von Herzensangele¬
genheiten zu erzählen hat. Ein Bruder stu¬

beſchaͤftigungen bliebe. Nun bekenne ich, daß
es mir immer laͤſtiger wurde, bald aus dieſer
bald aus jener Grammatik oder Beyſpiel¬
ſammlung, bald aus dieſem oder jenem Autor
den Anlaß zu meinen Arbeiten zu nehmen, und
ſo meinen Antheil an den Gegenſtaͤnden zugleich
mit den Stunden zu verzetteln. Ich kam daher
auf den Gedanken alles mit einmal abzuthun,
und erfand einen Roman von ſechs bis ſieben
Geſchwiſtern, die von einander entfernt und
in der Welt zerſtreut ſich wechſelſeitig Nach¬
richt von ihren Zuſtaͤnden und Empfindungen
mittheilen. Der aͤlteſte Bruder giebt in gutem
Deutſch Bericht von allerley Gegenſtaͤnden
und Ereigniſſen ſeiner Reiſe. Die Schweſter,
in einem frauenzimmerlichen Styl, mit lau¬
ter Puncten und in kurzen Saͤtzen, unge¬
faͤhr wie nachher Siegwart geſchrieben wur¬
de, erwiedert bald ihm, bald den andern
Geſchwiſtern, was ſie theils von haͤusli¬
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[286/0302] beſchaͤftigungen bliebe. Nun bekenne ich, daß es mir immer laͤſtiger wurde, bald aus dieſer bald aus jener Grammatik oder Beyſpiel¬ ſammlung, bald aus dieſem oder jenem Autor den Anlaß zu meinen Arbeiten zu nehmen, und ſo meinen Antheil an den Gegenſtaͤnden zugleich mit den Stunden zu verzetteln. Ich kam daher auf den Gedanken alles mit einmal abzuthun, und erfand einen Roman von ſechs bis ſieben Geſchwiſtern, die von einander entfernt und in der Welt zerſtreut ſich wechſelſeitig Nach¬ richt von ihren Zuſtaͤnden und Empfindungen mittheilen. Der aͤlteſte Bruder giebt in gutem Deutſch Bericht von allerley Gegenſtaͤnden und Ereigniſſen ſeiner Reiſe. Die Schweſter, in einem frauenzimmerlichen Styl, mit lau¬ ter Puncten und in kurzen Saͤtzen, unge¬ faͤhr wie nachher Siegwart geſchrieben wur¬ de, erwiedert bald ihm, bald den andern Geſchwiſtern, was ſie theils von haͤusli¬ chen Verhaͤltniſſen, theils von Herzensangele¬ genheiten zu erzaͤhlen hat. Ein Bruder ſtu¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/302>, abgerufen am 24.11.2024.