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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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Ich hatte dieß alles sehr bald begriffen und
behalten, und dachte es sollte nun ans Lesen
gehen. Daß dieses von der rechten zur lin
ken Seite geschehe, war mir wohl bewußt.
Nun aber trat auf Einmal ein neues Heer
von kleinen Buchstäbchen und Zeichen hervor,
von Puncten und Strichelchen aller Art,
welche eigentlich die Vocale vorstellen sollten,
worüber ich mich um so mehr verwunderte,
als sich in dem größern Alphabete offenbar
Vocale befanden, und die übrigen nur unter
fremden Benennungen verborgen zu seyn schie¬
nen. Auch ward gelehrt, daß die jüdische
Nation, so lange sie geblüht, wirklich sich
mit jenen ersten Zeichen begnügt und keine
andere Art zu schreiben und zu lesen gekannt
habe. Ich wäre nun gar zu gern auf die¬
sem alterthümlichen, wie mir schien bequeme¬
ren Wege gegangen; allein mein Alter er¬
klärte etwas streng: man müsse nach der
Grammatik verfahren wie sie einmal beliebt
und verfaßt worden. Das Lesen ohne diese

Ich hatte dieß alles ſehr bald begriffen und
behalten, und dachte es ſollte nun ans Leſen
gehen. Daß dieſes von der rechten zur lin
ken Seite geſchehe, war mir wohl bewußt.
Nun aber trat auf Einmal ein neues Heer
von kleinen Buchſtaͤbchen und Zeichen hervor,
von Puncten und Strichelchen aller Art,
welche eigentlich die Vocale vorſtellen ſollten,
woruͤber ich mich um ſo mehr verwunderte,
als ſich in dem groͤßern Alphabete offenbar
Vocale befanden, und die uͤbrigen nur unter
fremden Benennungen verborgen zu ſeyn ſchie¬
nen. Auch ward gelehrt, daß die juͤdiſche
Nation, ſo lange ſie gebluͤht, wirklich ſich
mit jenen erſten Zeichen begnuͤgt und keine
andere Art zu ſchreiben und zu leſen gekannt
habe. Ich waͤre nun gar zu gern auf die¬
ſem alterthuͤmlichen, wie mir ſchien bequeme¬
ren Wege gegangen; allein mein Alter er¬
klaͤrte etwas ſtreng: man muͤſſe nach der
Grammatik verfahren wie ſie einmal beliebt
und verfaßt worden. Das Leſen ohne dieſe

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[294/0310] Ich hatte dieß alles ſehr bald begriffen und behalten, und dachte es ſollte nun ans Leſen gehen. Daß dieſes von der rechten zur lin ken Seite geſchehe, war mir wohl bewußt. Nun aber trat auf Einmal ein neues Heer von kleinen Buchſtaͤbchen und Zeichen hervor, von Puncten und Strichelchen aller Art, welche eigentlich die Vocale vorſtellen ſollten, woruͤber ich mich um ſo mehr verwunderte, als ſich in dem groͤßern Alphabete offenbar Vocale befanden, und die uͤbrigen nur unter fremden Benennungen verborgen zu ſeyn ſchie¬ nen. Auch ward gelehrt, daß die juͤdiſche Nation, ſo lange ſie gebluͤht, wirklich ſich mit jenen erſten Zeichen begnuͤgt und keine andere Art zu ſchreiben und zu leſen gekannt habe. Ich waͤre nun gar zu gern auf die¬ ſem alterthuͤmlichen, wie mir ſchien bequeme¬ ren Wege gegangen; allein mein Alter er¬ klaͤrte etwas ſtreng: man muͤſſe nach der Grammatik verfahren wie ſie einmal beliebt und verfaßt worden. Das Leſen ohne dieſe

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/310>, abgerufen am 25.11.2024.