Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬ des, ordnendes und leitendes Wesen sich gleich¬ sam hinter der Natur verberge, um sich uns faßlich zu machen, eine solche Ueberzeugung dringt sich einem Jeden auf; ja wenn er auch den Faden derselben, der ihn durchs Leben führt, manchmal fahren ließe, so wird er ihn doch gleich und überall wieder aufnehmen können. Ganz anders verhält sich's mit der besondern Re¬ ligion, die uns verkündigt, daß jenes große We¬ sen sich eines Einzelnen, eines Stammes, eines Volkes, einer Landschaft entschieden und vor¬ züglich annehme. Diese Religion ist auf den Glauben gegründet, der unerschütterlich seyn muß, wenn er nicht sogleich von Grund aus zerstört werden soll. Jeder Zweifel gegen eine solche Religion ist ihr tödlich. Zur Ueberzeu¬ gung kann man zurückkehren, aber nicht zum Glauben. Daher die unendlichen Prüfungen, das Zaudern der Erfüllung so wiederholter Verheißungen, wodurch die Glaubensfähigkeit jener Ahnherren ins hellste Licht gesetzt wird.
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Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬ des, ordnendes und leitendes Weſen ſich gleich¬ ſam hinter der Natur verberge, um ſich uns faßlich zu machen, eine ſolche Ueberzeugung dringt ſich einem Jeden auf; ja wenn er auch den Faden derſelben, der ihn durchs Leben fuͤhrt, manchmal fahren ließe, ſo wird er ihn doch gleich und uͤberall wieder aufnehmen koͤnnen. Ganz anders verhaͤlt ſich's mit der beſondern Re¬ ligion, die uns verkuͤndigt, daß jenes große We¬ ſen ſich eines Einzelnen, eines Stammes, eines Volkes, einer Landſchaft entſchieden und vor¬ zuͤglich annehme. Dieſe Religion iſt auf den Glauben gegruͤndet, der unerſchuͤtterlich ſeyn muß, wenn er nicht ſogleich von Grund aus zerſtoͤrt werden ſoll. Jeder Zweifel gegen eine ſolche Religion iſt ihr toͤdlich. Zur Ueberzeu¬ gung kann man zuruͤckkehren, aber nicht zum Glauben. Daher die unendlichen Pruͤfungen, das Zaudern der Erfuͤllung ſo wiederholter Verheißungen, wodurch die Glaubensfaͤhigkeit jener Ahnherren ins hellſte Licht geſetzt wird.
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Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬
des, ordnendes und leitendes Weſen ſich gleich¬
ſam hinter der Natur verberge, um ſich uns
faßlich zu machen, eine ſolche Ueberzeugung
dringt ſich einem Jeden auf; ja wenn er auch
den Faden derſelben, der ihn durchs Leben fuͤhrt,
manchmal fahren ließe, ſo wird er ihn doch
gleich und uͤberall wieder aufnehmen koͤnnen.
Ganz anders verhaͤlt ſich's mit der beſondern Re¬
ligion, die uns verkuͤndigt, daß jenes große We¬
ſen ſich eines Einzelnen, eines Stammes, eines
Volkes, einer Landſchaft entſchieden und vor¬
zuͤglich annehme. Dieſe Religion iſt auf den
Glauben gegruͤndet, der unerſchuͤtterlich ſeyn
muß, wenn er nicht ſogleich von Grund aus
zerſtoͤrt werden ſoll. Jeder Zweifel gegen eine
ſolche Religion iſt ihr toͤdlich. Zur Ueberzeu¬
gung kann man zuruͤckkehren, aber nicht zum
Glauben. Daher die unendlichen Pruͤfungen,
das Zaudern der Erfuͤllung ſo wiederholter
Verheißungen, wodurch die Glaubensfaͤhigkeit
jener Ahnherren ins hellſte Licht geſetzt wird.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/339>, abgerufen am 28.11.2024.
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