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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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Sie hatte mein Concept der poetischen
Epistel vor sich hingezogen und las es halb
laut, gar hold und anmuthig. "Das ist
recht hübsch, sagte sie, indem sie bey einer
Art naiver Pointe inne hielt: nur Schade,
daß es nicht zu einem bessern, zu einem
wahren Gebrauch bestimmt ist." -- Das
wäre freylich sehr wünschenswert, rief ich
aus: wie glücklich müßte der seyn, der von
einem Mädchen, das er unendlich liebt, eine
solche Versicherung ihrer Neigung erhielte! --
"Es gehört freylich viel dazu, versetzte sie,
und doch wird manches möglich" -- Zum
Beyspiel, fuhr ich fort, wenn Jemand der
Sie kennt, schätzt, verehrt und anbetet, Ih¬
nen ein solches Blatt vorlegte, und sie recht
dringend, recht herzlich und freundlich bäte,
was würden Sie thun? -- Ich schob ihr
das Blatt näher hin, das sie schon wieder
mir zugeschoben hatte. Sie lächelte, besann
sich einen Augenblick, nahm, die Feder und
unterschrieb. Ich kannte mich nicht vor Ent¬

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Sie hatte mein Concept der poetiſchen
Epiſtel vor ſich hingezogen und las es halb
laut, gar hold und anmuthig. „Das iſt
recht huͤbſch, ſagte ſie, indem ſie bey einer
Art naiver Pointe inne hielt: nur Schade,
daß es nicht zu einem beſſern, zu einem
wahren Gebrauch beſtimmt iſt.“ — Das
waͤre freylich ſehr wuͤnſchenswert, rief ich
aus: wie gluͤcklich muͤßte der ſeyn, der von
einem Maͤdchen, das er unendlich liebt, eine
ſolche Verſicherung ihrer Neigung erhielte! —
„Es gehoͤrt freylich viel dazu, verſetzte ſie,
und doch wird manches moͤglich“ — Zum
Beyſpiel, fuhr ich fort, wenn Jemand der
Sie kennt, ſchaͤtzt, verehrt und anbetet, Ih¬
nen ein ſolches Blatt vorlegte, und ſie recht
dringend, recht herzlich und freundlich baͤte,
was wuͤrden Sie thun? — Ich ſchob ihr
das Blatt naͤher hin, das ſie ſchon wieder
mir zugeſchoben hatte. Sie laͤchelte, beſann
ſich einen Augenblick, nahm, die Feder und
unterſchrieb. Ich kannte mich nicht vor Ent¬

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[403/0419] Sie hatte mein Concept der poetiſchen Epiſtel vor ſich hingezogen und las es halb laut, gar hold und anmuthig. „Das iſt recht huͤbſch, ſagte ſie, indem ſie bey einer Art naiver Pointe inne hielt: nur Schade, daß es nicht zu einem beſſern, zu einem wahren Gebrauch beſtimmt iſt.“ — Das waͤre freylich ſehr wuͤnſchenswert, rief ich aus: wie gluͤcklich muͤßte der ſeyn, der von einem Maͤdchen, das er unendlich liebt, eine ſolche Verſicherung ihrer Neigung erhielte! — „Es gehoͤrt freylich viel dazu, verſetzte ſie, und doch wird manches moͤglich“ — Zum Beyſpiel, fuhr ich fort, wenn Jemand der Sie kennt, ſchaͤtzt, verehrt und anbetet, Ih¬ nen ein ſolches Blatt vorlegte, und ſie recht dringend, recht herzlich und freundlich baͤte, was wuͤrden Sie thun? — Ich ſchob ihr das Blatt naͤher hin, das ſie ſchon wieder mir zugeſchoben hatte. Sie laͤchelte, beſann ſich einen Augenblick, nahm, die Feder und unterſchrieb. Ich kannte mich nicht vor Ent¬ 26*

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/419>, abgerufen am 24.11.2024.