Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Chur-Kölln in Person angekommen. Am
Vorabend des Wahltags werden alle Frem¬
den aus der Stadt gewiesen, die Thore
sind geschlossen, die Juden in ihrer Gasse
eingesperrt, und der Frankfurter Bürger dünkt
sich nicht wenig, daß er allein Zeuge einer
so großen Feyerlichkeit bleiben darf.

Bisher war alles noch ziemlich modern
hergegangen: die höchsten und hohen Per¬
sonen bewegten sich nur in Kutschen hin und
wieder; nun aber sollten wir sie, nach uralter
Weise, zu Pferde sehen. Der Zulauf und
das Gedränge war außerordentlich. Ich
wußte mich in dem Römer, den ich wie
eine Maus den heimischen Kornboden genau
kannte, so lange herumzuschmiegen, bis ich
an den Haupteingang gelangte, vor welchem
die Churfürsten und Gesandten, die zuerst
in Prachtkutschen herangefahren und sich oben
versammlet hatten, nunmehr zu Pferde stei¬
gen sollten. Die stattlichsten, wohlzugeritte¬

Chur-Koͤlln in Perſon angekommen. Am
Vorabend des Wahltags werden alle Frem¬
den aus der Stadt gewieſen, die Thore
ſind geſchloſſen, die Juden in ihrer Gaſſe
eingeſperrt, und der Frankfurter Buͤrger duͤnkt
ſich nicht wenig, daß er allein Zeuge einer
ſo großen Feyerlichkeit bleiben darf.

Bisher war alles noch ziemlich modern
hergegangen: die hoͤchſten und hohen Per¬
ſonen bewegten ſich nur in Kutſchen hin und
wieder; nun aber ſollten wir ſie, nach uralter
Weiſe, zu Pferde ſehen. Der Zulauf und
das Gedraͤnge war außerordentlich. Ich
wußte mich in dem Roͤmer, den ich wie
eine Maus den heimiſchen Kornboden genau
kannte, ſo lange herumzuſchmiegen, bis ich
an den Haupteingang gelangte, vor welchem
die Churfuͤrſten und Geſandten, die zuerſt
in Prachtkutſchen herangefahren und ſich oben
verſammlet hatten, nunmehr zu Pferde ſtei¬
gen ſollten. Die ſtattlichſten, wohlzugeritte¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0463" n="447"/>
Chur-Ko&#x0364;lln in Per&#x017F;on angekommen. Am<lb/>
Vorabend des Wahltags werden alle Frem¬<lb/>
den aus der Stadt gewie&#x017F;en, die Thore<lb/>
&#x017F;ind ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, die Juden in ihrer Ga&#x017F;&#x017F;e<lb/>
einge&#x017F;perrt, und der Frankfurter Bu&#x0364;rger du&#x0364;nkt<lb/>
&#x017F;ich nicht wenig, daß er allein Zeuge einer<lb/>
&#x017F;o großen Feyerlichkeit bleiben darf.</p><lb/>
        <p>Bisher war alles noch ziemlich modern<lb/>
hergegangen: die ho&#x0364;ch&#x017F;ten und hohen Per¬<lb/>
&#x017F;onen bewegten &#x017F;ich nur in Kut&#x017F;chen hin und<lb/>
wieder; nun aber &#x017F;ollten wir &#x017F;ie, nach uralter<lb/>
Wei&#x017F;e, zu Pferde &#x017F;ehen. Der Zulauf und<lb/>
das Gedra&#x0364;nge war außerordentlich. Ich<lb/>
wußte mich in dem Ro&#x0364;mer, den ich wie<lb/>
eine Maus den heimi&#x017F;chen Kornboden genau<lb/>
kannte, &#x017F;o lange herumzu&#x017F;chmiegen, bis ich<lb/>
an den Haupteingang gelangte, vor welchem<lb/>
die Churfu&#x0364;r&#x017F;ten und Ge&#x017F;andten, die zuer&#x017F;t<lb/>
in Prachtkut&#x017F;chen herangefahren und &#x017F;ich oben<lb/>
ver&#x017F;ammlet hatten, nunmehr zu Pferde &#x017F;tei¬<lb/>
gen &#x017F;ollten. Die &#x017F;tattlich&#x017F;ten, wohlzugeritte¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[447/0463] Chur-Koͤlln in Perſon angekommen. Am Vorabend des Wahltags werden alle Frem¬ den aus der Stadt gewieſen, die Thore ſind geſchloſſen, die Juden in ihrer Gaſſe eingeſperrt, und der Frankfurter Buͤrger duͤnkt ſich nicht wenig, daß er allein Zeuge einer ſo großen Feyerlichkeit bleiben darf. Bisher war alles noch ziemlich modern hergegangen: die hoͤchſten und hohen Per¬ ſonen bewegten ſich nur in Kutſchen hin und wieder; nun aber ſollten wir ſie, nach uralter Weiſe, zu Pferde ſehen. Der Zulauf und das Gedraͤnge war außerordentlich. Ich wußte mich in dem Roͤmer, den ich wie eine Maus den heimiſchen Kornboden genau kannte, ſo lange herumzuſchmiegen, bis ich an den Haupteingang gelangte, vor welchem die Churfuͤrſten und Geſandten, die zuerſt in Prachtkutſchen herangefahren und ſich oben verſammlet hatten, nunmehr zu Pferde ſtei¬ gen ſollten. Die ſtattlichſten, wohlzugeritte¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/463
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/463>, abgerufen am 24.11.2024.