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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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hältniß denken, welches zwischen ihnen und
dem Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte
allmählich entstanden war. Die Gesandten
derselben hatten sich schon entfernt, um in
einem Seitenzimmer zu speisen; und wenn
dadurch der größte Theil des Saales ein
gespensterhaftes Ansehn bekam, daß so viele
unsichtbare Gäste auf das prächtigste bedient
wurden; so war eine große unbesetzte Tafel
in der Mitte noch betrübter anzusehen: denn
hier standen auch so viele Couverte leer, weil
alle die, welche allenfalls ein Recht hatten
sich daran zu setzen, Anstands halber, um
an dem größten Ehrentage ihrer Ehre nichts
zu vergeben, ausblieben, wenn sie sich auch
dermalen in der Stadt befanden.

Viele Betrachtungen anzustellen erlaubten
mir weder meine Jahre noch das Gedräng
der Gegenwart. Ich bemühte mich alles
möglichst ins Auge zu fassen, und wie der
Nachtisch aufgetragen wurde, da die Gesand¬

haͤltniß denken, welches zwiſchen ihnen und
dem Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte
allmaͤhlich entſtanden war. Die Geſandten
derſelben hatten ſich ſchon entfernt, um in
einem Seitenzimmer zu ſpeiſen; und wenn
dadurch der groͤßte Theil des Saales ein
geſpenſterhaftes Anſehn bekam, daß ſo viele
unſichtbare Gaͤſte auf das praͤchtigſte bedient
wurden; ſo war eine große unbeſetzte Tafel
in der Mitte noch betruͤbter anzuſehen: denn
hier ſtanden auch ſo viele Couverte leer, weil
alle die, welche allenfalls ein Recht hatten
ſich daran zu ſetzen, Anſtands halber, um
an dem groͤßten Ehrentage ihrer Ehre nichts
zu vergeben, ausblieben, wenn ſie ſich auch
dermalen in der Stadt befanden.

Viele Betrachtungen anzuſtellen erlaubten
mir weder meine Jahre noch das Gedraͤng
der Gegenwart. Ich bemuͤhte mich alles
moͤglichſt ins Auge zu faſſen, und wie der
Nachtiſch aufgetragen wurde, da die Geſand¬

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[493/0509] haͤltniß denken, welches zwiſchen ihnen und dem Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte allmaͤhlich entſtanden war. Die Geſandten derſelben hatten ſich ſchon entfernt, um in einem Seitenzimmer zu ſpeiſen; und wenn dadurch der groͤßte Theil des Saales ein geſpenſterhaftes Anſehn bekam, daß ſo viele unſichtbare Gaͤſte auf das praͤchtigſte bedient wurden; ſo war eine große unbeſetzte Tafel in der Mitte noch betruͤbter anzuſehen: denn hier ſtanden auch ſo viele Couverte leer, weil alle die, welche allenfalls ein Recht hatten ſich daran zu ſetzen, Anſtands halber, um an dem groͤßten Ehrentage ihrer Ehre nichts zu vergeben, ausblieben, wenn ſie ſich auch dermalen in der Stadt befanden. Viele Betrachtungen anzuſtellen erlaubten mir weder meine Jahre noch das Gedraͤng der Gegenwart. Ich bemuͤhte mich alles moͤglichſt ins Auge zu faſſen, und wie der Nachtiſch aufgetragen wurde, da die Geſand¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 493. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/509>, abgerufen am 21.05.2024.