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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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tausendfachen imaginären Vervielfältigung des¬
selben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine
Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen
kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade
durch diese Lebensgewalt, Leib und Seele in
eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. In
diesem traurigen Zustande kam mir nichts
mehr wünschenswerth, nichts begehrenswerth
mehr vor. Zwar ergriff mich manchmal ein
unendliches Verlangen, zu wissen wie es mei¬
nen armen Freunden und Geliebten ergehe,
was sich bey näherer Untersuchung ergeben,
in wiefern sie mit in jene Verbrechen verwi¬
ckelt oder unschuldig möchten erfunden seyn.
Auch dies malte ich mir auf das mannigfal¬
tigste umständlich aus, und ließ es nicht feh¬
len sie für unschuldig und recht unglücklich
zu halten. Bald wünschte ich mich von die¬
ser Ungewißheit befreyt zu sehen, und schrieb
heftig drohende Briefe an den Hausfreund,
daß er mir den weitern Gang der Sache
nicht vorenthalten solle. Bald zerriß ich sie

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tauſendfachen imaginaͤren Vervielfaͤltigung deſ¬
ſelben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine
Poeſie und Rhetorik hatten ſich auf dieſen
kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade
durch dieſe Lebensgewalt, Leib und Seele in
eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. In
dieſem traurigen Zuſtande kam mir nichts
mehr wuͤnſchenswerth, nichts begehrenswerth
mehr vor. Zwar ergriff mich manchmal ein
unendliches Verlangen, zu wiſſen wie es mei¬
nen armen Freunden und Geliebten ergehe,
was ſich bey naͤherer Unterſuchung ergeben,
in wiefern ſie mit in jene Verbrechen verwi¬
ckelt oder unſchuldig moͤchten erfunden ſeyn.
Auch dies malte ich mir auf das mannigfal¬
tigſte umſtaͤndlich aus, und ließ es nicht feh¬
len ſie fuͤr unſchuldig und recht ungluͤcklich
zu halten. Bald wuͤnſchte ich mich von die¬
ſer Ungewißheit befreyt zu ſehen, und ſchrieb
heftig drohende Briefe an den Hausfreund,
daß er mir den weitern Gang der Sache
nicht vorenthalten ſolle. Bald zerriß ich ſie

I. 33
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[513/0529] tauſendfachen imaginaͤren Vervielfaͤltigung deſ¬ ſelben. Meine ganze Erfindungsgabe, meine Poeſie und Rhetorik hatten ſich auf dieſen kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch dieſe Lebensgewalt, Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. In dieſem traurigen Zuſtande kam mir nichts mehr wuͤnſchenswerth, nichts begehrenswerth mehr vor. Zwar ergriff mich manchmal ein unendliches Verlangen, zu wiſſen wie es mei¬ nen armen Freunden und Geliebten ergehe, was ſich bey naͤherer Unterſuchung ergeben, in wiefern ſie mit in jene Verbrechen verwi¬ ckelt oder unſchuldig moͤchten erfunden ſeyn. Auch dies malte ich mir auf das mannigfal¬ tigſte umſtaͤndlich aus, und ließ es nicht feh¬ len ſie fuͤr unſchuldig und recht ungluͤcklich zu halten. Bald wuͤnſchte ich mich von die¬ ſer Ungewißheit befreyt zu ſehen, und ſchrieb heftig drohende Briefe an den Hausfreund, daß er mir den weitern Gang der Sache nicht vorenthalten ſolle. Bald zerriß ich ſie I. 33

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 513. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/529>, abgerufen am 27.11.2024.