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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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der Seele noch dem Herzen zusagen. Des¬
wegen ergaben sich gar mancherley Absonde¬
rungen von der gesetzlichen Kirche. Es ent¬
standen die Separatisten, Pietisten, Herrn¬
huter, die Stillen im Lande und wie man
sie sonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte,
die aber alle blos die Absicht hatten, sich der
Gottheit, besonders durch Christum, mehr
zu nähern, als es ihnen unter der Form der
öffentlichen Religion möglich zu seyn schien.

Der Knabe hörte von diesen Meynungen
und Gesinnungen unaufhörlich sprechen: denn
die Geistlichkeit sowohl als die Laien theil¬
ten sich in das Für und Wider. Die mehr
oder weniger Abgesonderten waren immer die
Minderzahl; aber ihre Sinnesweise zog an
durch Originalität, Herzlichkeit, Beharren und
Selbständigkeit. Man erzählte von diesen
Tugenden und ihren Aeußerungen allerley
Geschichten. Besonders ward die Antwort
eines frommen Klempnermeisters bekannt, den

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der Seele noch dem Herzen zuſagen. Des¬
wegen ergaben ſich gar mancherley Abſonde¬
rungen von der geſetzlichen Kirche. Es ent¬
ſtanden die Separatiſten, Pietiſten, Herrn¬
huter, die Stillen im Lande und wie man
ſie ſonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte,
die aber alle blos die Abſicht hatten, ſich der
Gottheit, beſonders durch Chriſtum, mehr
zu naͤhern, als es ihnen unter der Form der
oͤffentlichen Religion moͤglich zu ſeyn ſchien.

Der Knabe hoͤrte von dieſen Meynungen
und Geſinnungen unaufhoͤrlich ſprechen: denn
die Geiſtlichkeit ſowohl als die Laien theil¬
ten ſich in das Fuͤr und Wider. Die mehr
oder weniger Abgeſonderten waren immer die
Minderzahl; aber ihre Sinnesweiſe zog an
durch Originalitaͤt, Herzlichkeit, Beharren und
Selbſtaͤndigkeit. Man erzaͤhlte von dieſen
Tugenden und ihren Aeußerungen allerley
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[83/0099] der Seele noch dem Herzen zuſagen. Des¬ wegen ergaben ſich gar mancherley Abſonde¬ rungen von der geſetzlichen Kirche. Es ent¬ ſtanden die Separatiſten, Pietiſten, Herrn¬ huter, die Stillen im Lande und wie man ſie ſonst zu nennen und zu bezeichnen pflegte, die aber alle blos die Abſicht hatten, ſich der Gottheit, beſonders durch Chriſtum, mehr zu naͤhern, als es ihnen unter der Form der oͤffentlichen Religion moͤglich zu ſeyn ſchien. Der Knabe hoͤrte von dieſen Meynungen und Geſinnungen unaufhoͤrlich ſprechen: denn die Geiſtlichkeit ſowohl als die Laien theil¬ ten ſich in das Fuͤr und Wider. Die mehr oder weniger Abgeſonderten waren immer die Minderzahl; aber ihre Sinnesweiſe zog an durch Originalitaͤt, Herzlichkeit, Beharren und Selbſtaͤndigkeit. Man erzaͤhlte von dieſen Tugenden und ihren Aeußerungen allerley Geſchichten. Beſonders ward die Antwort eines frommen Klempnermeiſters bekannt, den 6 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/99>, abgerufen am 21.05.2024.