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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Wenn ältere Personen recht pädagogisch
verfahren wollten, so sollten sie einem jungen
Manne etwas, was ihm Freude macht, es
sey von welcher Art es wolle, weder verbie¬
ten noch verleiden, wenn sie nicht zu gleicher
Zeit ihm etwas Anderes dafür einzusetzen hät¬
ten, oder unterzuschieben wüßten. Jedermann
protestirte gegen meine Liebhabereyen und Nei¬
gungen; und das was man mir dagegen an¬
pries, lag theils so weit von mir ab, daß
ich seine Vorzüge nicht erkennen konnte, oder
es stand mir so nah, daß ich es eben nicht
für besser hielt als das Gescholtene. Ich kam
darüber durchaus in Verwirrung, und hatte
mir aus einer Vorlesung Ernesti's über Cice¬
ro's Orator das Beste versprochen; ich lernte
wohl auch etwas in diesen, Collegium, jedoch
über das, woran mir eigentlich gelegen war,
wurde ich nicht aufgeklärt. Ich forderte ei¬
nen Maßstab des Urtheils, und glaubte ge¬
wahr zu werden, daß ihn gar Niemand be¬
sitze: denn keiner war mit dem Andern einig,

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Wenn aͤltere Perſonen recht paͤdagogiſch
verfahren wollten, ſo ſollten ſie einem jungen
Manne etwas, was ihm Freude macht, es
ſey von welcher Art es wolle, weder verbie¬
ten noch verleiden, wenn ſie nicht zu gleicher
Zeit ihm etwas Anderes dafuͤr einzuſetzen haͤt¬
ten, oder unterzuſchieben wuͤßten. Jedermann
proteſtirte gegen meine Liebhabereyen und Nei¬
gungen; und das was man mir dagegen an¬
pries, lag theils ſo weit von mir ab, daß
ich ſeine Vorzuͤge nicht erkennen konnte, oder
es ſtand mir ſo nah, daß ich es eben nicht
fuͤr beſſer hielt als das Geſcholtene. Ich kam
daruͤber durchaus in Verwirrung, und hatte
mir aus einer Vorleſung Erneſti's uͤber Cice¬
ro's Orator das Beſte verſprochen; ich lernte
wohl auch etwas in dieſen, Collegium, jedoch
uͤber das, woran mir eigentlich gelegen war,
wurde ich nicht aufgeklaͤrt. Ich forderte ei¬
nen Maßſtab des Urtheils, und glaubte ge¬
wahr zu werden, daß ihn gar Niemand be¬
ſitze: denn keiner war mit dem Andern einig,

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[99/0107] Wenn aͤltere Perſonen recht paͤdagogiſch verfahren wollten, ſo ſollten ſie einem jungen Manne etwas, was ihm Freude macht, es ſey von welcher Art es wolle, weder verbie¬ ten noch verleiden, wenn ſie nicht zu gleicher Zeit ihm etwas Anderes dafuͤr einzuſetzen haͤt¬ ten, oder unterzuſchieben wuͤßten. Jedermann proteſtirte gegen meine Liebhabereyen und Nei¬ gungen; und das was man mir dagegen an¬ pries, lag theils ſo weit von mir ab, daß ich ſeine Vorzuͤge nicht erkennen konnte, oder es ſtand mir ſo nah, daß ich es eben nicht fuͤr beſſer hielt als das Geſcholtene. Ich kam daruͤber durchaus in Verwirrung, und hatte mir aus einer Vorleſung Erneſti's uͤber Cice¬ ro's Orator das Beſte verſprochen; ich lernte wohl auch etwas in dieſen, Collegium, jedoch uͤber das, woran mir eigentlich gelegen war, wurde ich nicht aufgeklaͤrt. Ich forderte ei¬ nen Maßſtab des Urtheils, und glaubte ge¬ wahr zu werden, daß ihn gar Niemand be¬ ſitze: denn keiner war mit dem Andern einig, 7 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/107>, abgerufen am 21.11.2024.