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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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selbst wenn sie Beyspiele vorbrachten; und
wo sollten wir ein Urtheil hernehmen, wenn
man einem Manne wie Wieland so man¬
ches Tadelhafte in seinen liebenswürdigen,
uns Jüngere völlig einnehmenden Schriften
aufzuzählen wußte.

In solcher vielfachen Zerstreuung, ja Zer¬
stückelung meines Wesens und meiner Studien
traf sich's, daß ich bey Hofrath Ludwig den
Mittagstisch hatte. Er war Medicus, Bo¬
taniker, und die Gesellschaft bestand, außer
Morus, in lauter angehenden oder der Voll¬
endung näheren Aerzten. Ich hörte nun in
diesen Stunden gar kein ander Gespräch als
von Medicin oder Naturhistorie, und meine
Einbildungskraft wurde in ein ganz ander
Feld hinüber gezogen. Die Namen Hal¬
ler
, Linne, Büffon hörte ich mit gro¬
ßer Verehrung nennen, und wenn auch manch¬
mal wegen Irrthümer, in die sie gefallen seyn
sollten, ein Streit entstand; so kam doch zu¬

ſelbſt wenn ſie Beyſpiele vorbrachten; und
wo ſollten wir ein Urtheil hernehmen, wenn
man einem Manne wie Wieland ſo man¬
ches Tadelhafte in ſeinen liebenswuͤrdigen,
uns Juͤngere voͤllig einnehmenden Schriften
aufzuzaͤhlen wußte.

In ſolcher vielfachen Zerſtreuung, ja Zer¬
ſtuͤckelung meines Weſens und meiner Studien
traf ſich's, daß ich bey Hofrath Ludwig den
Mittagstiſch hatte. Er war Medicus, Bo¬
taniker, und die Geſellſchaft beſtand, außer
Morus, in lauter angehenden oder der Voll¬
endung naͤheren Aerzten. Ich hoͤrte nun in
dieſen Stunden gar kein ander Geſpraͤch als
von Medicin oder Naturhiſtorie, und meine
Einbildungskraft wurde in ein ganz ander
Feld hinuͤber gezogen. Die Namen Hal¬
ler
, Linné, Buͤffon hoͤrte ich mit gro¬
ßer Verehrung nennen, und wenn auch manch¬
mal wegen Irrthuͤmer, in die ſie gefallen ſeyn
ſollten, ein Streit entſtand; ſo kam doch zu¬

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[100/0108] ſelbſt wenn ſie Beyſpiele vorbrachten; und wo ſollten wir ein Urtheil hernehmen, wenn man einem Manne wie Wieland ſo man¬ ches Tadelhafte in ſeinen liebenswuͤrdigen, uns Juͤngere voͤllig einnehmenden Schriften aufzuzaͤhlen wußte. In ſolcher vielfachen Zerſtreuung, ja Zer¬ ſtuͤckelung meines Weſens und meiner Studien traf ſich's, daß ich bey Hofrath Ludwig den Mittagstiſch hatte. Er war Medicus, Bo¬ taniker, und die Geſellſchaft beſtand, außer Morus, in lauter angehenden oder der Voll¬ endung naͤheren Aerzten. Ich hoͤrte nun in dieſen Stunden gar kein ander Geſpraͤch als von Medicin oder Naturhiſtorie, und meine Einbildungskraft wurde in ein ganz ander Feld hinuͤber gezogen. Die Namen Hal¬ ler, Linné, Buͤffon hoͤrte ich mit gro¬ ßer Verehrung nennen, und wenn auch manch¬ mal wegen Irrthuͤmer, in die ſie gefallen ſeyn ſollten, ein Streit entſtand; ſo kam doch zu¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/108>, abgerufen am 11.05.2024.