Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

In ruhigen Zeiten will Jeder nach seiner
Weise leben, der Bürger sein Gewerb, sein
Geschäft treiben und sich nachher vergnügen:
so mag auch der Schriftsteller gern etwas
verfassen, seine Arbeiten bekannt machen, und
wo nicht Lohn doch Lob dafür hoffen, weil
er glaubt, etwas Gutes und Nützliches ge¬
than zu haben. In dieser Ruhe wird der
Bürger durch den Satyriker, der Autor durch
den Kritiker gestört, und so die friedliche Ge¬
sellschaft in eine unangenehme Bewegung ge¬
setzt.

Die litterarische Epoche, in der ich gebo¬
ren bin, entwickelte sich aus der vorhergehen¬
den durch Widerspruch. Deutschland, so lan¬
ge von auswärtigen Völkern überschwemmt,
von andern Nationen durchdrungen, in ge¬
lehrten und diplomatischen Verhandlungen an
fremde Sprachen gewiesen, konnte seine eigne
unmöglich ausbilden. Es drangen sich ihr,
zu so manchen neuen Begriffen, auch unzäh¬

In ruhigen Zeiten will Jeder nach ſeiner
Weiſe leben, der Buͤrger ſein Gewerb, ſein
Geſchaͤft treiben und ſich nachher vergnuͤgen:
ſo mag auch der Schriftſteller gern etwas
verfaſſen, ſeine Arbeiten bekannt machen, und
wo nicht Lohn doch Lob dafuͤr hoffen, weil
er glaubt, etwas Gutes und Nuͤtzliches ge¬
than zu haben. In dieſer Ruhe wird der
Buͤrger durch den Satyriker, der Autor durch
den Kritiker geſtoͤrt, und ſo die friedliche Ge¬
ſellſchaft in eine unangenehme Bewegung ge¬
ſetzt.

Die litterariſche Epoche, in der ich gebo¬
ren bin, entwickelte ſich aus der vorhergehen¬
den durch Widerſpruch. Deutſchland, ſo lan¬
ge von auswaͤrtigen Voͤlkern uͤberſchwemmt,
von andern Nationen durchdrungen, in ge¬
lehrten und diplomatiſchen Verhandlungen an
fremde Sprachen gewieſen, konnte ſeine eigne
unmoͤglich ausbilden. Es drangen ſich ihr,
zu ſo manchen neuen Begriffen, auch unzaͤh¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0114" n="106"/>
        <p>In ruhigen Zeiten will Jeder nach &#x017F;einer<lb/>
Wei&#x017F;e leben, der Bu&#x0364;rger &#x017F;ein Gewerb, &#x017F;ein<lb/>
Ge&#x017F;cha&#x0364;ft treiben und &#x017F;ich nachher vergnu&#x0364;gen:<lb/>
&#x017F;o mag auch der Schrift&#x017F;teller gern etwas<lb/>
verfa&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;eine Arbeiten bekannt machen, und<lb/>
wo nicht Lohn doch Lob dafu&#x0364;r hoffen, weil<lb/>
er glaubt, etwas Gutes und Nu&#x0364;tzliches ge¬<lb/>
than zu haben. In die&#x017F;er Ruhe wird der<lb/>
Bu&#x0364;rger durch den Satyriker, der Autor durch<lb/>
den Kritiker ge&#x017F;to&#x0364;rt, und &#x017F;o die friedliche Ge¬<lb/>
&#x017F;ell&#x017F;chaft in eine unangenehme Bewegung ge¬<lb/>
&#x017F;etzt.</p><lb/>
        <p>Die litterari&#x017F;che Epoche, in der ich gebo¬<lb/>
ren bin, entwickelte &#x017F;ich aus der vorhergehen¬<lb/>
den durch Wider&#x017F;pruch. Deut&#x017F;chland, &#x017F;o lan¬<lb/>
ge von auswa&#x0364;rtigen Vo&#x0364;lkern u&#x0364;ber&#x017F;chwemmt,<lb/>
von andern Nationen durchdrungen, in ge¬<lb/>
lehrten und diplomati&#x017F;chen Verhandlungen an<lb/>
fremde Sprachen gewie&#x017F;en, konnte &#x017F;eine eigne<lb/>
unmo&#x0364;glich ausbilden. Es drangen &#x017F;ich ihr,<lb/>
zu &#x017F;o manchen neuen Begriffen, auch unza&#x0364;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[106/0114] In ruhigen Zeiten will Jeder nach ſeiner Weiſe leben, der Buͤrger ſein Gewerb, ſein Geſchaͤft treiben und ſich nachher vergnuͤgen: ſo mag auch der Schriftſteller gern etwas verfaſſen, ſeine Arbeiten bekannt machen, und wo nicht Lohn doch Lob dafuͤr hoffen, weil er glaubt, etwas Gutes und Nuͤtzliches ge¬ than zu haben. In dieſer Ruhe wird der Buͤrger durch den Satyriker, der Autor durch den Kritiker geſtoͤrt, und ſo die friedliche Ge¬ ſellſchaft in eine unangenehme Bewegung ge¬ ſetzt. Die litterariſche Epoche, in der ich gebo¬ ren bin, entwickelte ſich aus der vorhergehen¬ den durch Widerſpruch. Deutſchland, ſo lan¬ ge von auswaͤrtigen Voͤlkern uͤberſchwemmt, von andern Nationen durchdrungen, in ge¬ lehrten und diplomatiſchen Verhandlungen an fremde Sprachen gewieſen, konnte ſeine eigne unmoͤglich ausbilden. Es drangen ſich ihr, zu ſo manchen neuen Begriffen, auch unzaͤh¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/114
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/114>, abgerufen am 12.05.2024.