Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

denn offenbar die Besserung des Menschen
folge, und so habe ein Gedicht das letzte Ziel
erreicht, wenn es, außer allem anderen Ge¬
leisteten, noch nützlich werde. Nach diesen
sämmtlichen Erfordernissen wollte man nun die
verschiedenen Dichtungsarten prüfen, und die¬
jenige, welche die Natur nachahmte, sodann
wunderbar und zugleich auch von sittlichem
Zweck und Nutzen sey, sollte für die erste
und oberste gelten. Und nach vieler Ueber¬
legung ward endlich dieser große Vorrang,
mit höchster Ueberzeugung, der Aesopischen
Fabel zugeschrieben.

So wunderlich uns jetzt eine solche Ab¬
leitung vorkommen mag; so hatte sich doch
auf die besten Köpfe den entschiedensten Einfluß.
Daß Gellert und nachher Lichtwer sich
diesem Fache widmeten, daß selbst Lessing
darin zu arbeiten versuchte, daß so viele An¬
dere ihr Talent dahin wendeten, spricht für
das Zutrauen, welches sich diese Gattung er¬

denn offenbar die Beſſerung des Menſchen
folge, und ſo habe ein Gedicht das letzte Ziel
erreicht, wenn es, außer allem anderen Ge¬
leiſteten, noch nuͤtzlich werde. Nach dieſen
ſaͤmmtlichen Erforderniſſen wollte man nun die
verſchiedenen Dichtungsarten pruͤfen, und die¬
jenige, welche die Natur nachahmte, ſodann
wunderbar und zugleich auch von ſittlichem
Zweck und Nutzen ſey, ſollte fuͤr die erſte
und oberſte gelten. Und nach vieler Ueber¬
legung ward endlich dieſer große Vorrang,
mit hoͤchſter Ueberzeugung, der Aeſopiſchen
Fabel zugeſchrieben.

So wunderlich uns jetzt eine ſolche Ab¬
leitung vorkommen mag; ſo hatte ſich doch
auf die beſten Koͤpfe den entſchiedenſten Einfluß.
Daß Gellert und nachher Lichtwer ſich
dieſem Fache widmeten, daß ſelbſt Leſſing
darin zu arbeiten verſuchte, daß ſo viele An¬
dere ihr Talent dahin wendeten, ſpricht fuͤr
das Zutrauen, welches ſich dieſe Gattung er¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0126" n="118"/>
denn offenbar die Be&#x017F;&#x017F;erung des Men&#x017F;chen<lb/>
folge, und &#x017F;o habe ein Gedicht das letzte Ziel<lb/>
erreicht, wenn es, außer allem anderen Ge¬<lb/>
lei&#x017F;teten, noch nu&#x0364;tzlich werde. Nach die&#x017F;en<lb/>
&#x017F;a&#x0364;mmtlichen Erforderni&#x017F;&#x017F;en wollte man nun die<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Dichtungsarten pru&#x0364;fen, und die¬<lb/>
jenige, welche die Natur nachahmte, &#x017F;odann<lb/>
wunderbar und zugleich auch von &#x017F;ittlichem<lb/>
Zweck und Nutzen &#x017F;ey, &#x017F;ollte fu&#x0364;r die er&#x017F;te<lb/>
und ober&#x017F;te gelten. Und nach vieler Ueber¬<lb/>
legung ward endlich die&#x017F;er große Vorrang,<lb/>
mit ho&#x0364;ch&#x017F;ter Ueberzeugung, der Ae&#x017F;opi&#x017F;chen<lb/>
Fabel zuge&#x017F;chrieben.</p><lb/>
        <p>So wunderlich uns jetzt eine &#x017F;olche Ab¬<lb/>
leitung vorkommen mag; &#x017F;o hatte &#x017F;ich doch<lb/>
auf die be&#x017F;ten Ko&#x0364;pfe den ent&#x017F;chieden&#x017F;ten Einfluß.<lb/>
Daß <hi rendition="#g">Gellert</hi> und nachher <hi rendition="#g">Lichtwer</hi> &#x017F;ich<lb/>
die&#x017F;em Fache widmeten, daß &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">Le&#x017F;&#x017F;ing</hi><lb/>
darin zu arbeiten ver&#x017F;uchte, daß &#x017F;o viele An¬<lb/>
dere ihr Talent dahin wendeten, &#x017F;pricht fu&#x0364;r<lb/>
das Zutrauen, welches &#x017F;ich die&#x017F;e Gattung er¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[118/0126] denn offenbar die Beſſerung des Menſchen folge, und ſo habe ein Gedicht das letzte Ziel erreicht, wenn es, außer allem anderen Ge¬ leiſteten, noch nuͤtzlich werde. Nach dieſen ſaͤmmtlichen Erforderniſſen wollte man nun die verſchiedenen Dichtungsarten pruͤfen, und die¬ jenige, welche die Natur nachahmte, ſodann wunderbar und zugleich auch von ſittlichem Zweck und Nutzen ſey, ſollte fuͤr die erſte und oberſte gelten. Und nach vieler Ueber¬ legung ward endlich dieſer große Vorrang, mit hoͤchſter Ueberzeugung, der Aeſopiſchen Fabel zugeſchrieben. So wunderlich uns jetzt eine ſolche Ab¬ leitung vorkommen mag; ſo hatte ſich doch auf die beſten Koͤpfe den entſchiedenſten Einfluß. Daß Gellert und nachher Lichtwer ſich dieſem Fache widmeten, daß ſelbſt Leſſing darin zu arbeiten verſuchte, daß ſo viele An¬ dere ihr Talent dahin wendeten, ſpricht fuͤr das Zutrauen, welches ſich dieſe Gattung er¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/126
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/126>, abgerufen am 11.05.2024.