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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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konnte man das Gemeine nicht vom Besseren
unterscheiden, weil alles unter einander ins
Flache gezogen wird. Schon hatten Schrift¬
steller diesem breiten Unheil zu entgehen ge¬
sucht, und es gelang ihnen mehr oder weni¬
ger. Haller und Rammler waren von
Natur zum Gedrängten geneigt; Lessing
und Wieland sind durch Reflexion dazu ge¬
führt worden. Der erste wurde nach und
nach ganz epigrammatisch in seinen Gedich¬
ten, knapp in der Minna, laconisch in
Emilia Gallotti, später kehrte er erst
zu einer heiteren Naivetät zurück, die ihn so
wohl kleidet im Nathan. Wieland, der
noch im Agathon, Don Sylvio, den
Comischen Erzählungen mit unter pro¬
lix gewesen war, wird in Musarion und
Idris auf eine wundersame Weise gefaßt und
genau, mit großer Anmuth. Klopstock,
in den ersten Gesängen der Messiade, ist nicht
ohne Weitschweifigkeit; in den Oden und an¬
deren kleinen Gedichten erscheint er gedrängt.

konnte man das Gemeine nicht vom Beſſeren
unterſcheiden, weil alles unter einander ins
Flache gezogen wird. Schon hatten Schrift¬
ſteller dieſem breiten Unheil zu entgehen ge¬
ſucht, und es gelang ihnen mehr oder weni¬
ger. Haller und Rammler waren von
Natur zum Gedraͤngten geneigt; Leſſing
und Wieland ſind durch Reflexion dazu ge¬
fuͤhrt worden. Der erſte wurde nach und
nach ganz epigrammatiſch in ſeinen Gedich¬
ten, knapp in der Minna, laconiſch in
Emilia Gallotti, ſpaͤter kehrte er erſt
zu einer heiteren Naivetaͤt zuruͤck, die ihn ſo
wohl kleidet im Nathan. Wieland, der
noch im Agathon, Don Sylvio, den
Comiſchen Erzaͤhlungen mit unter pro¬
lix geweſen war, wird in Muſarion und
Idris auf eine wunderſame Weiſe gefaßt und
genau, mit großer Anmuth. Klopſtock,
in den erſten Geſaͤngen der Meſſiade, iſt nicht
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[133/0141] konnte man das Gemeine nicht vom Beſſeren unterſcheiden, weil alles unter einander ins Flache gezogen wird. Schon hatten Schrift¬ ſteller dieſem breiten Unheil zu entgehen ge¬ ſucht, und es gelang ihnen mehr oder weni¬ ger. Haller und Rammler waren von Natur zum Gedraͤngten geneigt; Leſſing und Wieland ſind durch Reflexion dazu ge¬ fuͤhrt worden. Der erſte wurde nach und nach ganz epigrammatiſch in ſeinen Gedich¬ ten, knapp in der Minna, laconiſch in Emilia Gallotti, ſpaͤter kehrte er erſt zu einer heiteren Naivetaͤt zuruͤck, die ihn ſo wohl kleidet im Nathan. Wieland, der noch im Agathon, Don Sylvio, den Comiſchen Erzaͤhlungen mit unter pro¬ lix geweſen war, wird in Muſarion und Idris auf eine wunderſame Weiſe gefaßt und genau, mit großer Anmuth. Klopſtock, in den erſten Geſaͤngen der Meſſiade, iſt nicht ohne Weitſchweifigkeit; in den Oden und an¬ deren kleinen Gedichten erſcheint er gedraͤngt.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/141>, abgerufen am 21.11.2024.