Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

mit dem Ausruf entgegen: "Von rechts¬
wegen sollte man einen Mann wie Shakes¬
peare gar nicht übersetzt haben": so begreift
sich ohne weiteres, wie unendlich weit die
allgemeine deutsche Bibliothek in Sachen des
Geschmacks zurück war, und daß junge Leute,
von wahrem Gefühl belebt, sich nach anderen
Leitsternen umzusehen hatten.

Den Stoff, der auf diese Weise mehr
oder weniger die Form bestimmte, suchten die
Deutschen überall auf. Sie hatten wenig oder
keine Nationalgegenstände behandelt. Schle¬
gels Herrmann
deutete nur darauf hin.
Die idyllische Tendenz verbreitete sich unend¬
lich. Das Charakterlose der Geßnerschen,
bey großer Anmuth und kindlicher Herzlich¬
keit, machte Jeden glauben, daß er etwas
Aehnliches vermöge. Eben so bloß aus dem
Allgemeinmenschlichen gegriffen waren jene Ge¬
dichte, die ein Fremdnationelles darstellen soll¬
ten, z. B. die jüdischen Schäfergedichte, über¬

mit dem Ausruf entgegen: „Von rechts¬
wegen ſollte man einen Mann wie Shakes¬
peare gar nicht uͤberſetzt haben“: ſo begreift
ſich ohne weiteres, wie unendlich weit die
allgemeine deutſche Bibliothek in Sachen des
Geſchmacks zuruͤck war, und daß junge Leute,
von wahrem Gefuͤhl belebt, ſich nach anderen
Leitſternen umzuſehen hatten.

Den Stoff, der auf dieſe Weiſe mehr
oder weniger die Form beſtimmte, ſuchten die
Deutſchen uͤberall auf. Sie hatten wenig oder
keine Nationalgegenſtaͤnde behandelt. Schle¬
gels Herrmann
deutete nur darauf hin.
Die idylliſche Tendenz verbreitete ſich unend¬
lich. Das Charakterloſe der Geßnerſchen,
bey großer Anmuth und kindlicher Herzlich¬
keit, machte Jeden glauben, daß er etwas
Aehnliches vermoͤge. Eben ſo bloß aus dem
Allgemeinmenſchlichen gegriffen waren jene Ge¬
dichte, die ein Fremdnationelles darſtellen ſoll¬
ten, z. B. die juͤdiſchen Schaͤfergedichte, uͤber¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0147" n="139"/>
mit dem Ausruf entgegen: &#x201E;Von rechts¬<lb/>
wegen &#x017F;ollte man einen Mann wie Shakes¬<lb/>
peare gar nicht u&#x0364;ber&#x017F;etzt haben&#x201C;: &#x017F;o begreift<lb/>
&#x017F;ich ohne weiteres, wie unendlich weit die<lb/>
allgemeine deut&#x017F;che Bibliothek in Sachen des<lb/>
Ge&#x017F;chmacks zuru&#x0364;ck war, und daß junge Leute,<lb/>
von wahrem Gefu&#x0364;hl belebt, &#x017F;ich nach anderen<lb/>
Leit&#x017F;ternen umzu&#x017F;ehen hatten.</p><lb/>
        <p>Den Stoff, der auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e mehr<lb/>
oder weniger die Form be&#x017F;timmte, &#x017F;uchten die<lb/>
Deut&#x017F;chen u&#x0364;berall auf. Sie hatten wenig oder<lb/>
keine Nationalgegen&#x017F;ta&#x0364;nde behandelt. <hi rendition="#g">Schle¬<lb/>
gels Herrmann</hi> deutete nur darauf hin.<lb/>
Die idylli&#x017F;che Tendenz verbreitete &#x017F;ich unend¬<lb/>
lich. Das Charakterlo&#x017F;e der Geßner&#x017F;chen,<lb/>
bey großer Anmuth und kindlicher Herzlich¬<lb/>
keit, machte Jeden glauben, daß er etwas<lb/>
Aehnliches vermo&#x0364;ge. Eben &#x017F;o bloß aus dem<lb/>
Allgemeinmen&#x017F;chlichen gegriffen waren jene Ge¬<lb/>
dichte, die ein Fremdnationelles dar&#x017F;tellen &#x017F;oll¬<lb/>
ten, z. B. die ju&#x0364;di&#x017F;chen Scha&#x0364;fergedichte, u&#x0364;ber¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[139/0147] mit dem Ausruf entgegen: „Von rechts¬ wegen ſollte man einen Mann wie Shakes¬ peare gar nicht uͤberſetzt haben“: ſo begreift ſich ohne weiteres, wie unendlich weit die allgemeine deutſche Bibliothek in Sachen des Geſchmacks zuruͤck war, und daß junge Leute, von wahrem Gefuͤhl belebt, ſich nach anderen Leitſternen umzuſehen hatten. Den Stoff, der auf dieſe Weiſe mehr oder weniger die Form beſtimmte, ſuchten die Deutſchen uͤberall auf. Sie hatten wenig oder keine Nationalgegenſtaͤnde behandelt. Schle¬ gels Herrmann deutete nur darauf hin. Die idylliſche Tendenz verbreitete ſich unend¬ lich. Das Charakterloſe der Geßnerſchen, bey großer Anmuth und kindlicher Herzlich¬ keit, machte Jeden glauben, daß er etwas Aehnliches vermoͤge. Eben ſo bloß aus dem Allgemeinmenſchlichen gegriffen waren jene Ge¬ dichte, die ein Fremdnationelles darſtellen ſoll¬ ten, z. B. die juͤdiſchen Schaͤfergedichte, uͤber¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/147
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/147>, abgerufen am 18.12.2024.