neren Begriff von Poesie zu Grunde richtet, in seiner kritischen Dichtkunst ziemlich voll¬ ständig zusammengezimmert und zugleich nach¬ gewiesen, daß auch schon deutsche Dichter mit vortrefflichen Werken alle Rubriken aus¬ zufüllen gewußt. Und so ging es denn im¬ mer fort. Jedes Jahr wurde die Collection ansehnlicher, aber auch jedes Jahr vertrieb eine Arbeit die andere aus dem Locat, in dem sie bisher geglänzt hatte. Wir besaßen nunmehr, wo nicht Homere, doch Virgile und Miltone, wo nicht einen Pindar, doch einen Horaz; an Theokriten war kein Man¬ gel; und so wiegte man sich mit Vergleichun¬ gen nach Außen, indem die Masse poetischer Werke immer wuchs, damit auch endlich ei¬ ne Vergleichung nach Innen Statt finden konnte.
Stand es nun mit den Sachen des Ge¬ schmacks auf einem sehr schwankenden Fuße; so konnte man jener Epoche auf keine Weise
neren Begriff von Poeſie zu Grunde richtet, in ſeiner kritiſchen Dichtkunſt ziemlich voll¬ ſtaͤndig zuſammengezimmert und zugleich nach¬ gewieſen, daß auch ſchon deutſche Dichter mit vortrefflichen Werken alle Rubriken aus¬ zufuͤllen gewußt. Und ſo ging es denn im¬ mer fort. Jedes Jahr wurde die Collection anſehnlicher, aber auch jedes Jahr vertrieb eine Arbeit die andere aus dem Locat, in dem ſie bisher geglaͤnzt hatte. Wir beſaßen nunmehr, wo nicht Homere, doch Virgile und Miltone, wo nicht einen Pindar, doch einen Horaz; an Theokriten war kein Man¬ gel; und ſo wiegte man ſich mit Vergleichun¬ gen nach Außen, indem die Maſſe poetiſcher Werke immer wuchs, damit auch endlich ei¬ ne Vergleichung nach Innen Statt finden konnte.
Stand es nun mit den Sachen des Ge¬ ſchmacks auf einem ſehr ſchwankenden Fuße; ſo konnte man jener Epoche auf keine Weiſe
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neren Begriff von Poeſie zu Grunde richtet,
in ſeiner kritiſchen Dichtkunſt ziemlich voll¬
ſtaͤndig zuſammengezimmert und zugleich nach¬
gewieſen, daß auch ſchon deutſche Dichter
mit vortrefflichen Werken alle Rubriken aus¬
zufuͤllen gewußt. Und ſo ging es denn im¬
mer fort. Jedes Jahr wurde die Collection
anſehnlicher, aber auch jedes Jahr vertrieb
eine Arbeit die andere aus dem Locat, in
dem ſie bisher geglaͤnzt hatte. Wir beſaßen
nunmehr, wo nicht Homere, doch Virgile
und Miltone, wo nicht einen Pindar, doch
einen Horaz; an Theokriten war kein Man¬
gel; und ſo wiegte man ſich mit Vergleichun¬
gen nach Außen, indem die Maſſe poetiſcher
Werke immer wuchs, damit auch endlich ei¬
ne Vergleichung nach Innen Statt finden
konnte.
Stand es nun mit den Sachen des Ge¬
ſchmacks auf einem ſehr ſchwankenden Fuße;
ſo konnte man jener Epoche auf keine Weiſe
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/149>, abgerufen am 11.05.2024.
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