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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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gerliche Societät unterminirt ist. Religion,
Sitte, Gesetz, Stand, Verhältnisse, Ge¬
wohnheit, alles beherrscht nur die Oberfläche
des städtischen Daseyns. Die von herrlichen
Häusern eingefaßten Straßen werden reinlich
gehalten und Jedermann beträgt sich daselbst
anständig genug; aber im Innern sieht es öf¬
ters um desto wüster aus, und ein glattes Aeu¬
ßere übertüncht, als ein schwacher Bewurf,
manches morsche Gemäuer, das über Nacht
zusammenstürzt, und eine desto schrecklichere
Wirkung hervorbringt, als es mitten in den
friedlichen Zustand hereinbricht. Wie viele Fa¬
milien hatte ich nicht schon näher und ferner
durch Banqueroute, Ehescheidungen, verführte
Töchter, Morde, Hausdiebstähle, Vergiftun¬
gen entweder ins Verderben stürzen, oder auf
dem Rande kümmerlich erhalten sehen, und hat¬
te, so jung ich war, in solchen Fällen zu Ret¬
tung und Hülfe öfters die Hand geboten: denn
da meine Offenheit Zutrauen erweckte, meine
Verschwiegenheit erprobt war, meine Thätig¬

gerliche Societaͤt unterminirt iſt. Religion,
Sitte, Geſetz, Stand, Verhaͤltniſſe, Ge¬
wohnheit, alles beherrſcht nur die Oberflaͤche
des ſtaͤdtiſchen Daſeyns. Die von herrlichen
Haͤuſern eingefaßten Straßen werden reinlich
gehalten und Jedermann betraͤgt ſich daſelbſt
anſtaͤndig genug; aber im Innern ſieht es oͤf¬
ters um deſto wuͤſter aus, und ein glattes Aeu¬
ßere uͤbertuͤncht, als ein ſchwacher Bewurf,
manches morſche Gemaͤuer, das uͤber Nacht
zuſammenſtuͤrzt, und eine deſto ſchrecklichere
Wirkung hervorbringt, als es mitten in den
friedlichen Zuſtand hereinbricht. Wie viele Fa¬
milien hatte ich nicht ſchon naͤher und ferner
durch Banqueroute, Eheſcheidungen, verfuͤhrte
Toͤchter, Morde, Hausdiebſtaͤhle, Vergiftun¬
gen entweder ins Verderben ſtuͤrzen, oder auf
dem Rande kuͤmmerlich erhalten ſehen, und hat¬
te, ſo jung ich war, in ſolchen Faͤllen zu Ret¬
tung und Huͤlfe oͤfters die Hand geboten: denn
da meine Offenheit Zutrauen erweckte, meine
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[171/0179] gerliche Societaͤt unterminirt iſt. Religion, Sitte, Geſetz, Stand, Verhaͤltniſſe, Ge¬ wohnheit, alles beherrſcht nur die Oberflaͤche des ſtaͤdtiſchen Daſeyns. Die von herrlichen Haͤuſern eingefaßten Straßen werden reinlich gehalten und Jedermann betraͤgt ſich daſelbſt anſtaͤndig genug; aber im Innern ſieht es oͤf¬ ters um deſto wuͤſter aus, und ein glattes Aeu¬ ßere uͤbertuͤncht, als ein ſchwacher Bewurf, manches morſche Gemaͤuer, das uͤber Nacht zuſammenſtuͤrzt, und eine deſto ſchrecklichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den friedlichen Zuſtand hereinbricht. Wie viele Fa¬ milien hatte ich nicht ſchon naͤher und ferner durch Banqueroute, Eheſcheidungen, verfuͤhrte Toͤchter, Morde, Hausdiebſtaͤhle, Vergiftun¬ gen entweder ins Verderben ſtuͤrzen, oder auf dem Rande kuͤmmerlich erhalten ſehen, und hat¬ te, ſo jung ich war, in ſolchen Faͤllen zu Ret¬ tung und Huͤlfe oͤfters die Hand geboten: denn da meine Offenheit Zutrauen erweckte, meine Verſchwiegenheit erprobt war, meine Thaͤtig¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/179>, abgerufen am 13.05.2024.