Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

von ihr erwartet, beweisen soll. Der prote¬
stantische Gottesdienst hat zu wenig Fülle und
Consequenz, als daß er die Gemeine zusammen¬
halten könnte; daher geschieht es leicht, daß
Glieder sich von ihr absondern und entweder
kleine Gemeinen bilden, oder, ohne kirchlichen
Zusammenhang, neben einander geruhig ihr
bürgerliches Wesen treiben. So klagte man
schon vor geraumer Zeit, die Kirchgänger ver¬
minderten sich von Jahr zu Jahr und in eben
dem Verhältniß die Personen, welche den Ge¬
nuß des Nachtmahls verlangten. Was bey¬
des, besonders aber das letztere betrifft, liegt
die Ursache sehr nah; doch wer wagt sie
auszusprechen? Wir wollen es versuchen.

In sittlichen und religiosen Dingen, eben
so wohl als in physichen und bürgerlichen, mag
der Mensch nicht gern etwas aus dem Stegrei¬
fe thun; eine Folge, woraus Gewohnheit ent¬
springt, ist ihm nöthig; das was er lieben und
leisten soll, kann er sich nicht einzeln, nicht ab¬

12 *

von ihr erwartet, beweiſen ſoll. Der prote¬
ſtantiſche Gottesdienſt hat zu wenig Fuͤlle und
Conſequenz, als daß er die Gemeine zuſammen¬
halten koͤnnte; daher geſchieht es leicht, daß
Glieder ſich von ihr abſondern und entweder
kleine Gemeinen bilden, oder, ohne kirchlichen
Zuſammenhang, neben einander geruhig ihr
buͤrgerliches Weſen treiben. So klagte man
ſchon vor geraumer Zeit, die Kirchgaͤnger ver¬
minderten ſich von Jahr zu Jahr und in eben
dem Verhaͤltniß die Perſonen, welche den Ge¬
nuß des Nachtmahls verlangten. Was bey¬
des, beſonders aber das letztere betrifft, liegt
die Urſache ſehr nah; doch wer wagt ſie
auszuſprechen? Wir wollen es verſuchen.

In ſittlichen und religioſen Dingen, eben
ſo wohl als in phyſichen und buͤrgerlichen, mag
der Menſch nicht gern etwas aus dem Stegrei¬
fe thun; eine Folge, woraus Gewohnheit ent¬
ſpringt, iſt ihm noͤthig; das was er lieben und
leiſten ſoll, kann er ſich nicht einzeln, nicht ab¬

12 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0187" n="179"/>
von ihr erwartet, bewei&#x017F;en &#x017F;oll. Der prote¬<lb/>
&#x017F;tanti&#x017F;che Gottesdien&#x017F;t hat zu wenig Fu&#x0364;lle und<lb/>
Con&#x017F;equenz, als daß er die Gemeine zu&#x017F;ammen¬<lb/>
halten ko&#x0364;nnte; daher ge&#x017F;chieht es leicht, daß<lb/>
Glieder &#x017F;ich von ihr ab&#x017F;ondern und entweder<lb/>
kleine Gemeinen bilden, oder, ohne kirchlichen<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang, neben einander geruhig ihr<lb/>
bu&#x0364;rgerliches We&#x017F;en treiben. So klagte man<lb/>
&#x017F;chon vor geraumer Zeit, die Kirchga&#x0364;nger ver¬<lb/>
minderten &#x017F;ich von Jahr zu Jahr und in eben<lb/>
dem Verha&#x0364;ltniß die Per&#x017F;onen, welche den Ge¬<lb/>
nuß des Nachtmahls verlangten. Was bey¬<lb/>
des, be&#x017F;onders aber das letztere betrifft, liegt<lb/>
die Ur&#x017F;ache &#x017F;ehr nah; doch wer wagt &#x017F;ie<lb/>
auszu&#x017F;prechen? Wir wollen es ver&#x017F;uchen.</p><lb/>
        <p>In &#x017F;ittlichen und religio&#x017F;en Dingen, eben<lb/>
&#x017F;o wohl als in phy&#x017F;ichen und bu&#x0364;rgerlichen, mag<lb/>
der Men&#x017F;ch nicht gern etwas aus dem Stegrei¬<lb/>
fe thun; eine Folge, woraus Gewohnheit ent¬<lb/>
&#x017F;pringt, i&#x017F;t ihm no&#x0364;thig; das was er lieben und<lb/>
lei&#x017F;ten &#x017F;oll, kann er &#x017F;ich nicht einzeln, nicht ab¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">12 *<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0187] von ihr erwartet, beweiſen ſoll. Der prote¬ ſtantiſche Gottesdienſt hat zu wenig Fuͤlle und Conſequenz, als daß er die Gemeine zuſammen¬ halten koͤnnte; daher geſchieht es leicht, daß Glieder ſich von ihr abſondern und entweder kleine Gemeinen bilden, oder, ohne kirchlichen Zuſammenhang, neben einander geruhig ihr buͤrgerliches Weſen treiben. So klagte man ſchon vor geraumer Zeit, die Kirchgaͤnger ver¬ minderten ſich von Jahr zu Jahr und in eben dem Verhaͤltniß die Perſonen, welche den Ge¬ nuß des Nachtmahls verlangten. Was bey¬ des, beſonders aber das letztere betrifft, liegt die Urſache ſehr nah; doch wer wagt ſie auszuſprechen? Wir wollen es verſuchen. In ſittlichen und religioſen Dingen, eben ſo wohl als in phyſichen und buͤrgerlichen, mag der Menſch nicht gern etwas aus dem Stegrei¬ fe thun; eine Folge, woraus Gewohnheit ent¬ ſpringt, iſt ihm noͤthig; das was er lieben und leiſten ſoll, kann er ſich nicht einzeln, nicht ab¬ 12 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/187
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/187>, abgerufen am 21.11.2024.