Wie ist nicht dieser wahrhaft geistige Zu¬ sammenhang im Protestantismus zersplittert! indem ein Theil gedachter Symbole für apo¬ kryphisch und nur wenige für canonisch erklärt werden, und wie will man uns durch das Gleichgültige der einen zu der hohen Würde der anderen vorbereiten?
Ich ward zu meiner Zeit bey einem gu¬ ten, alten, schwachen Geistlichen, der aber seit vielen Jahren der Beichtvater des Hau¬ ses gewesen, in den Religionsunterricht gege¬ ben. Den Katechismus, eine Paraphrase des¬ selben, die Heilsordnung wußte ich an den Fingern herzuerzählen, von den kräftig bewei¬ senden biblischen Sprüchen fehlte mir keiner; aber von alle dem ärndtete ich keine Frucht; denn als man mir versicherte, daß der brave alte Mann seine Hauptprüfung nach einer al¬ ten Formel einrichte, so verlor ich alle Lust und Liebe zur Sache, ließ mich die letzten acht Tage in allerley Zerstreuungen ein, legte
Wie iſt nicht dieſer wahrhaft geiſtige Zu¬ ſammenhang im Proteſtantismus zerſplittert! indem ein Theil gedachter Symbole fuͤr apo¬ kryphiſch und nur wenige fuͤr canoniſch erklaͤrt werden, und wie will man uns durch das Gleichguͤltige der einen zu der hohen Wuͤrde der anderen vorbereiten?
Ich ward zu meiner Zeit bey einem gu¬ ten, alten, ſchwachen Geiſtlichen, der aber ſeit vielen Jahren der Beichtvater des Hau¬ ſes geweſen, in den Religionsunterricht gege¬ ben. Den Katechismus, eine Paraphraſe deſ¬ ſelben, die Heilsordnung wußte ich an den Fingern herzuerzaͤhlen, von den kraͤftig bewei¬ ſenden bibliſchen Spruͤchen fehlte mir keiner; aber von alle dem aͤrndtete ich keine Frucht; denn als man mir verſicherte, daß der brave alte Mann ſeine Hauptpruͤfung nach einer al¬ ten Formel einrichte, ſo verlor ich alle Luſt und Liebe zur Sache, ließ mich die letzten acht Tage in allerley Zerſtreuungen ein, legte
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Wie iſt nicht dieſer wahrhaft geiſtige Zu¬
ſammenhang im Proteſtantismus zerſplittert!
indem ein Theil gedachter Symbole fuͤr apo¬
kryphiſch und nur wenige fuͤr canoniſch erklaͤrt
werden, und wie will man uns durch das
Gleichguͤltige der einen zu der hohen Wuͤrde
der anderen vorbereiten?
Ich ward zu meiner Zeit bey einem gu¬
ten, alten, ſchwachen Geiſtlichen, der aber
ſeit vielen Jahren der Beichtvater des Hau¬
ſes geweſen, in den Religionsunterricht gege¬
ben. Den Katechismus, eine Paraphraſe deſ¬
ſelben, die Heilsordnung wußte ich an den
Fingern herzuerzaͤhlen, von den kraͤftig bewei¬
ſenden bibliſchen Spruͤchen fehlte mir keiner;
aber von alle dem aͤrndtete ich keine Frucht;
denn als man mir verſicherte, daß der brave
alte Mann ſeine Hauptpruͤfung nach einer al¬
ten Formel einrichte, ſo verlor ich alle Luſt
und Liebe zur Sache, ließ mich die letzten
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/196>, abgerufen am 24.11.2024.
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