die von einem älteren Freund erborgten, dem Geistlichen abgewonnenen Blätter in meinen Hut und las gemüth- und sinnlos alles das¬ jenige her, was ich mit Gemüth und Ueber¬ zeugung wohl zu äußern gewußt hätte.
Aber ich fand meinen guten Willen und mein Aufstreben in diesem wichtigen Falle durch trocknen, geistlosen Schlendrian noch schlimmer paralysirt, als ich mich nunmehr dem Beichtstuhle nahen sollte. Ich war mir wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬ wußtseyn verringerte sie, weil es mich auf die moralische Kraft wies, die in mir lag und die mit Vorsatz und Beharrlichkeit doch wohl zuletzt über den alten Adam Herr wer¬ den sollte. Wir waren belehrt, daß wir eben darum viel besser als die Catholiken seyen, weil wir im Beichtstuhl nichts Besonderes zu bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht einmal schicklich wäre, selbst wenn wir es
die von einem aͤlteren Freund erborgten, dem Geiſtlichen abgewonnenen Blaͤtter in meinen Hut und las gemuͤth- und ſinnlos alles das¬ jenige her, was ich mit Gemuͤth und Ueber¬ zeugung wohl zu aͤußern gewußt haͤtte.
Aber ich fand meinen guten Willen und mein Aufſtreben in dieſem wichtigen Falle durch trocknen, geiſtloſen Schlendrian noch ſchlimmer paralyſirt, als ich mich nunmehr dem Beichtſtuhle nahen ſollte. Ich war mir wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬ wußtſeyn verringerte ſie, weil es mich auf die moraliſche Kraft wies, die in mir lag und die mit Vorſatz und Beharrlichkeit doch wohl zuletzt uͤber den alten Adam Herr wer¬ den ſollte. Wir waren belehrt, daß wir eben darum viel beſſer als die Catholiken ſeyen, weil wir im Beichtſtuhl nichts Beſonderes zu bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht einmal ſchicklich waͤre, ſelbſt wenn wir es
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0197"n="189"/>
die von einem aͤlteren Freund erborgten, dem<lb/>
Geiſtlichen abgewonnenen Blaͤtter in meinen<lb/>
Hut und las gemuͤth- und ſinnlos alles das¬<lb/>
jenige her, was ich mit Gemuͤth und Ueber¬<lb/>
zeugung wohl zu aͤußern gewußt haͤtte.</p><lb/><p>Aber ich fand meinen guten Willen und<lb/>
mein Aufſtreben in dieſem wichtigen Falle<lb/>
durch trocknen, geiſtloſen Schlendrian noch<lb/>ſchlimmer paralyſirt, als ich mich nunmehr<lb/>
dem Beichtſtuhle nahen ſollte. Ich war mir<lb/>
wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner<lb/>
großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬<lb/>
wußtſeyn verringerte ſie, weil es mich auf<lb/>
die moraliſche Kraft wies, die in mir lag<lb/>
und die mit Vorſatz und Beharrlichkeit doch<lb/>
wohl zuletzt uͤber den alten Adam Herr wer¬<lb/>
den ſollte. Wir waren belehrt, daß wir eben<lb/>
darum viel beſſer als die Catholiken ſeyen,<lb/>
weil wir im Beichtſtuhl nichts Beſonderes zu<lb/>
bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht<lb/>
einmal ſchicklich waͤre, ſelbſt wenn wir es<lb/></p></div></body></text></TEI>
[189/0197]
die von einem aͤlteren Freund erborgten, dem
Geiſtlichen abgewonnenen Blaͤtter in meinen
Hut und las gemuͤth- und ſinnlos alles das¬
jenige her, was ich mit Gemuͤth und Ueber¬
zeugung wohl zu aͤußern gewußt haͤtte.
Aber ich fand meinen guten Willen und
mein Aufſtreben in dieſem wichtigen Falle
durch trocknen, geiſtloſen Schlendrian noch
ſchlimmer paralyſirt, als ich mich nunmehr
dem Beichtſtuhle nahen ſollte. Ich war mir
wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner
großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬
wußtſeyn verringerte ſie, weil es mich auf
die moraliſche Kraft wies, die in mir lag
und die mit Vorſatz und Beharrlichkeit doch
wohl zuletzt uͤber den alten Adam Herr wer¬
den ſollte. Wir waren belehrt, daß wir eben
darum viel beſſer als die Catholiken ſeyen,
weil wir im Beichtſtuhl nichts Beſonderes zu
bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht
einmal ſchicklich waͤre, ſelbſt wenn wir es
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/197>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.