Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

die von einem älteren Freund erborgten, dem
Geistlichen abgewonnenen Blätter in meinen
Hut und las gemüth- und sinnlos alles das¬
jenige her, was ich mit Gemüth und Ueber¬
zeugung wohl zu äußern gewußt hätte.

Aber ich fand meinen guten Willen und
mein Aufstreben in diesem wichtigen Falle
durch trocknen, geistlosen Schlendrian noch
schlimmer paralysirt, als ich mich nunmehr
dem Beichtstuhle nahen sollte. Ich war mir
wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner
großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬
wußtseyn verringerte sie, weil es mich auf
die moralische Kraft wies, die in mir lag
und die mit Vorsatz und Beharrlichkeit doch
wohl zuletzt über den alten Adam Herr wer¬
den sollte. Wir waren belehrt, daß wir eben
darum viel besser als die Catholiken seyen,
weil wir im Beichtstuhl nichts Besonderes zu
bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht
einmal schicklich wäre, selbst wenn wir es

die von einem aͤlteren Freund erborgten, dem
Geiſtlichen abgewonnenen Blaͤtter in meinen
Hut und las gemuͤth- und ſinnlos alles das¬
jenige her, was ich mit Gemuͤth und Ueber¬
zeugung wohl zu aͤußern gewußt haͤtte.

Aber ich fand meinen guten Willen und
mein Aufſtreben in dieſem wichtigen Falle
durch trocknen, geiſtloſen Schlendrian noch
ſchlimmer paralyſirt, als ich mich nunmehr
dem Beichtſtuhle nahen ſollte. Ich war mir
wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner
großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬
wußtſeyn verringerte ſie, weil es mich auf
die moraliſche Kraft wies, die in mir lag
und die mit Vorſatz und Beharrlichkeit doch
wohl zuletzt uͤber den alten Adam Herr wer¬
den ſollte. Wir waren belehrt, daß wir eben
darum viel beſſer als die Catholiken ſeyen,
weil wir im Beichtſtuhl nichts Beſonderes zu
bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht
einmal ſchicklich waͤre, ſelbſt wenn wir es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0197" n="189"/>
die von einem a&#x0364;lteren Freund erborgten, dem<lb/>
Gei&#x017F;tlichen abgewonnenen Bla&#x0364;tter in meinen<lb/>
Hut und las gemu&#x0364;th- und &#x017F;innlos alles das¬<lb/>
jenige her, was ich mit Gemu&#x0364;th und Ueber¬<lb/>
zeugung wohl zu a&#x0364;ußern gewußt ha&#x0364;tte.</p><lb/>
        <p>Aber ich fand meinen guten Willen und<lb/>
mein Auf&#x017F;treben in die&#x017F;em wichtigen Falle<lb/>
durch trocknen, gei&#x017F;tlo&#x017F;en Schlendrian noch<lb/>
&#x017F;chlimmer paraly&#x017F;irt, als ich mich nunmehr<lb/>
dem Beicht&#x017F;tuhle nahen &#x017F;ollte. Ich war mir<lb/>
wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner<lb/>
großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬<lb/>
wußt&#x017F;eyn verringerte &#x017F;ie, weil es mich auf<lb/>
die morali&#x017F;che Kraft wies, die in mir lag<lb/>
und die mit Vor&#x017F;atz und Beharrlichkeit doch<lb/>
wohl zuletzt u&#x0364;ber den alten Adam Herr wer¬<lb/>
den &#x017F;ollte. Wir waren belehrt, daß wir eben<lb/>
darum viel be&#x017F;&#x017F;er als die Catholiken &#x017F;eyen,<lb/>
weil wir im Beicht&#x017F;tuhl nichts Be&#x017F;onderes zu<lb/>
bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht<lb/>
einmal &#x017F;chicklich wa&#x0364;re, &#x017F;elb&#x017F;t wenn wir es<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[189/0197] die von einem aͤlteren Freund erborgten, dem Geiſtlichen abgewonnenen Blaͤtter in meinen Hut und las gemuͤth- und ſinnlos alles das¬ jenige her, was ich mit Gemuͤth und Ueber¬ zeugung wohl zu aͤußern gewußt haͤtte. Aber ich fand meinen guten Willen und mein Aufſtreben in dieſem wichtigen Falle durch trocknen, geiſtloſen Schlendrian noch ſchlimmer paralyſirt, als ich mich nunmehr dem Beichtſtuhle nahen ſollte. Ich war mir wohl mancher Gebrechen, aber doch keiner großen Fehler bewußt, und gerade das Be¬ wußtſeyn verringerte ſie, weil es mich auf die moraliſche Kraft wies, die in mir lag und die mit Vorſatz und Beharrlichkeit doch wohl zuletzt uͤber den alten Adam Herr wer¬ den ſollte. Wir waren belehrt, daß wir eben darum viel beſſer als die Catholiken ſeyen, weil wir im Beichtſtuhl nichts Beſonderes zu bekennen brauchten, ja, daß es auch nicht einmal ſchicklich waͤre, ſelbſt wenn wir es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/197
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/197>, abgerufen am 12.05.2024.