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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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befriedigen versprach. Unsere wichtigste Diffe¬
renz war jedoch diese, daß ich behauptete, eine
abgesonderte Philosophie sey nicht nöthig, in¬
dem sie schon in der Religion und Poesie voll¬
kommen enthalten sey. Dieses wollte er nun
keinesweges gelten lassen, sondern suchte mir
vielmehr zu beweisen, daß erst diese durch je¬
ne begründet werden müßten; welches ich
hartnäckig leugnete, und im Fortgange unse¬
rer Unterhaltung bey jedem Schritt Argu¬
mente für meine Meynung fand. Denn da
in der Poesie ein gewisser Glaube an das Un¬
mögliche, in der Religion ein eben solcher
Glaube an das Unergründliche Statt finden
muß; so schienen mir die Philosophen in ei¬
ner sehr üblen Lage zu seyn, die auf ihrem
Felde beydes beweisen und erklären wollten;
wie sich denn auch aus der Geschichte der Phi¬
losophie sehr geschwind darthun ließ, daß im¬
mer einer einen andern Grund suchte als der
andre, und der Sceptiker zuletzt alles für
grund- und bodenlos ansprach.

befriedigen verſprach. Unſere wichtigſte Diffe¬
renz war jedoch dieſe, daß ich behauptete, eine
abgeſonderte Philoſophie ſey nicht noͤthig, in¬
dem ſie ſchon in der Religion und Poeſie voll¬
kommen enthalten ſey. Dieſes wollte er nun
keinesweges gelten laſſen, ſondern ſuchte mir
vielmehr zu beweiſen, daß erſt dieſe durch je¬
ne begruͤndet werden muͤßten; welches ich
hartnaͤckig leugnete, und im Fortgange unſe¬
rer Unterhaltung bey jedem Schritt Argu¬
mente fuͤr meine Meynung fand. Denn da
in der Poeſie ein gewiſſer Glaube an das Un¬
moͤgliche, in der Religion ein eben ſolcher
Glaube an das Unergruͤndliche Statt finden
muß; ſo ſchienen mir die Philoſophen in ei¬
ner ſehr uͤblen Lage zu ſeyn, die auf ihrem
Felde beydes beweiſen und erklaͤren wollten;
wie ſich denn auch aus der Geſchichte der Phi¬
loſophie ſehr geſchwind darthun ließ, daß im¬
mer einer einen andern Grund ſuchte als der
andre, und der Sceptiker zuletzt alles fuͤr
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[12/0020] befriedigen verſprach. Unſere wichtigſte Diffe¬ renz war jedoch dieſe, daß ich behauptete, eine abgeſonderte Philoſophie ſey nicht noͤthig, in¬ dem ſie ſchon in der Religion und Poeſie voll¬ kommen enthalten ſey. Dieſes wollte er nun keinesweges gelten laſſen, ſondern ſuchte mir vielmehr zu beweiſen, daß erſt dieſe durch je¬ ne begruͤndet werden muͤßten; welches ich hartnaͤckig leugnete, und im Fortgange unſe¬ rer Unterhaltung bey jedem Schritt Argu¬ mente fuͤr meine Meynung fand. Denn da in der Poeſie ein gewiſſer Glaube an das Un¬ moͤgliche, in der Religion ein eben ſolcher Glaube an das Unergruͤndliche Statt finden muß; ſo ſchienen mir die Philoſophen in ei¬ ner ſehr uͤblen Lage zu ſeyn, die auf ihrem Felde beydes beweiſen und erklaͤren wollten; wie ſich denn auch aus der Geſchichte der Phi¬ loſophie ſehr geſchwind darthun ließ, daß im¬ mer einer einen andern Grund ſuchte als der andre, und der Sceptiker zuletzt alles fuͤr grund- und bodenlos anſprach.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/20>, abgerufen am 28.04.2024.