Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

mir für einen trefflichen weisen Mann, der
wohl, im Leben und Tod, sich mit Christo
vergleichen lasse. Seine Schüler hingegen
schienen mir große Aehnlichkeit mit den Apo¬
steln zu haben, die sich nach des Meisters
Tode sogleich entzweyten und offenbar jeder
nur eine beschränkte Sinnesart für das Rech¬
te erkannte. Weder die Schärfe des Ari¬
stoteles, noch die Fülle des Plato fruchteten
bey mir im mindesten. Zu den Stoikern hin¬
gegen hatte ich schon früher einige Neigung
gefaßt, und schaffte nun den Epictet her¬
bey, den ich mit vieler Theilnahme studirte.
Mein Freund ließ mich ungern in dieser Ein¬
seitigkeit hingehen, von der er mich nicht ab¬
zuziehen vermochte: denn ohngeachtet seiner
mannigfaltigen Studien, wußte er doch die
Hauptfrage nicht in's Enge zu bringen. Er
hätte mir nur sagen dürfen, daß es im Leben
bloß aufs Thun ankomme, das Genießen und
Leiden finde sich von selbst. Indessen darf
man die Jugend nur gewähren lassen; nicht

mir fuͤr einen trefflichen weiſen Mann, der
wohl, im Leben und Tod, ſich mit Chriſto
vergleichen laſſe. Seine Schuͤler hingegen
ſchienen mir große Aehnlichkeit mit den Apo¬
ſteln zu haben, die ſich nach des Meiſters
Tode ſogleich entzweyten und offenbar jeder
nur eine beſchraͤnkte Sinnesart fuͤr das Rech¬
te erkannte. Weder die Schaͤrfe des Ari¬
ſtoteles, noch die Fuͤlle des Plato fruchteten
bey mir im mindeſten. Zu den Stoikern hin¬
gegen hatte ich ſchon fruͤher einige Neigung
gefaßt, und ſchaffte nun den Epictet her¬
bey, den ich mit vieler Theilnahme ſtudirte.
Mein Freund ließ mich ungern in dieſer Ein¬
ſeitigkeit hingehen, von der er mich nicht ab¬
zuziehen vermochte: denn ohngeachtet ſeiner
mannigfaltigen Studien, wußte er doch die
Hauptfrage nicht in's Enge zu bringen. Er
haͤtte mir nur ſagen duͤrfen, daß es im Leben
bloß aufs Thun ankomme, das Genießen und
Leiden finde ſich von ſelbſt. Indeſſen darf
man die Jugend nur gewaͤhren laſſen; nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0022" n="14"/>
mir fu&#x0364;r einen trefflichen wei&#x017F;en Mann, der<lb/>
wohl, im Leben und Tod, &#x017F;ich mit Chri&#x017F;to<lb/>
vergleichen la&#x017F;&#x017F;e. Seine Schu&#x0364;ler hingegen<lb/>
&#x017F;chienen mir große Aehnlichkeit mit den Apo¬<lb/>
&#x017F;teln zu haben, die &#x017F;ich nach des Mei&#x017F;ters<lb/>
Tode &#x017F;ogleich entzweyten und offenbar jeder<lb/>
nur eine be&#x017F;chra&#x0364;nkte Sinnesart fu&#x0364;r das Rech¬<lb/>
te erkannte. Weder die Scha&#x0364;rfe des Ari¬<lb/>
&#x017F;toteles, noch die Fu&#x0364;lle des Plato fruchteten<lb/>
bey mir im minde&#x017F;ten. Zu den Stoikern hin¬<lb/>
gegen hatte ich &#x017F;chon fru&#x0364;her einige Neigung<lb/>
gefaßt, und &#x017F;chaffte nun den <hi rendition="#g">Epictet</hi> her¬<lb/>
bey, den ich mit vieler Theilnahme &#x017F;tudirte.<lb/>
Mein Freund ließ mich ungern in die&#x017F;er Ein¬<lb/>
&#x017F;eitigkeit hingehen, von der er mich nicht ab¬<lb/>
zuziehen vermochte: denn ohngeachtet &#x017F;einer<lb/>
mannigfaltigen Studien, wußte er doch die<lb/>
Hauptfrage nicht in's Enge zu bringen. Er<lb/>
ha&#x0364;tte mir nur &#x017F;agen du&#x0364;rfen, daß es im Leben<lb/>
bloß aufs Thun ankomme, das Genießen und<lb/>
Leiden finde &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t. Inde&#x017F;&#x017F;en darf<lb/>
man die Jugend nur gewa&#x0364;hren la&#x017F;&#x017F;en; nicht<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0022] mir fuͤr einen trefflichen weiſen Mann, der wohl, im Leben und Tod, ſich mit Chriſto vergleichen laſſe. Seine Schuͤler hingegen ſchienen mir große Aehnlichkeit mit den Apo¬ ſteln zu haben, die ſich nach des Meiſters Tode ſogleich entzweyten und offenbar jeder nur eine beſchraͤnkte Sinnesart fuͤr das Rech¬ te erkannte. Weder die Schaͤrfe des Ari¬ ſtoteles, noch die Fuͤlle des Plato fruchteten bey mir im mindeſten. Zu den Stoikern hin¬ gegen hatte ich ſchon fruͤher einige Neigung gefaßt, und ſchaffte nun den Epictet her¬ bey, den ich mit vieler Theilnahme ſtudirte. Mein Freund ließ mich ungern in dieſer Ein¬ ſeitigkeit hingehen, von der er mich nicht ab¬ zuziehen vermochte: denn ohngeachtet ſeiner mannigfaltigen Studien, wußte er doch die Hauptfrage nicht in's Enge zu bringen. Er haͤtte mir nur ſagen duͤrfen, daß es im Leben bloß aufs Thun ankomme, das Genießen und Leiden finde ſich von ſelbſt. Indeſſen darf man die Jugend nur gewaͤhren laſſen; nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/22
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/22>, abgerufen am 27.04.2024.