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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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sehr lange haftet sie an falschen Maximen;
das Leben reißt oder lockt sie bald davon wie¬
der los.

Die Jahrszeit war schön geworden, wir
gingen oft zusammen ins Freye und besuchten
die Lustörter, die in großer Anzahl um die
Stadt umherliegen. Aber gerade hier konnte
es mir am wenigsten wohl seyn: denn ich sah
noch die Gespenster der Vettern überall, und
fürchtete bald da bald dort einen hervortreten
zu sehen. Auch waren mir die gleichgültigsten
Blicke der Menschen beschwerlich. Ich hatte
jene bewußtlose Glückseligkeit verloren, unbe¬
kannt und unbescholten umherzugehen und in
dem größten Gewühle an keinen Beobachter zu
denken. Jetzt fing der hypochondrische Dünkel
an mich zu quälen, als erregte ich die Auf¬
merksamkeit der Leute, als wären ihre Blicke
auf mein Wesen gerichtet, es festzuhalten, zu
untersuchen und zu tadeln.

ſehr lange haftet ſie an falſchen Maximen;
das Leben reißt oder lockt ſie bald davon wie¬
der los.

Die Jahrszeit war ſchoͤn geworden, wir
gingen oft zuſammen ins Freye und beſuchten
die Luſtoͤrter, die in großer Anzahl um die
Stadt umherliegen. Aber gerade hier konnte
es mir am wenigſten wohl ſeyn: denn ich ſah
noch die Geſpenſter der Vettern uͤberall, und
fuͤrchtete bald da bald dort einen hervortreten
zu ſehen. Auch waren mir die gleichguͤltigſten
Blicke der Menſchen beſchwerlich. Ich hatte
jene bewußtloſe Gluͤckſeligkeit verloren, unbe¬
kannt und unbeſcholten umherzugehen und in
dem groͤßten Gewuͤhle an keinen Beobachter zu
denken. Jetzt fing der hypochondriſche Duͤnkel
an mich zu quaͤlen, als erregte ich die Auf¬
merkſamkeit der Leute, als waͤren ihre Blicke
auf mein Weſen gerichtet, es feſtzuhalten, zu
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[15/0023] ſehr lange haftet ſie an falſchen Maximen; das Leben reißt oder lockt ſie bald davon wie¬ der los. Die Jahrszeit war ſchoͤn geworden, wir gingen oft zuſammen ins Freye und beſuchten die Luſtoͤrter, die in großer Anzahl um die Stadt umherliegen. Aber gerade hier konnte es mir am wenigſten wohl ſeyn: denn ich ſah noch die Geſpenſter der Vettern uͤberall, und fuͤrchtete bald da bald dort einen hervortreten zu ſehen. Auch waren mir die gleichguͤltigſten Blicke der Menſchen beſchwerlich. Ich hatte jene bewußtloſe Gluͤckſeligkeit verloren, unbe¬ kannt und unbeſcholten umherzugehen und in dem groͤßten Gewuͤhle an keinen Beobachter zu denken. Jetzt fing der hypochondriſche Duͤnkel an mich zu quaͤlen, als erregte ich die Auf¬ merkſamkeit der Leute, als waͤren ihre Blicke auf mein Weſen gerichtet, es feſtzuhalten, zu unterſuchen und zu tadeln.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/23>, abgerufen am 28.04.2024.