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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Dieses Gedicht stand lange Zeit unter so
vielen anderen, welche die Wände jener Zim¬
mer verunzierten, ohne bemerkt zu werden,
und wir, die wir uns genugsam daran ergetzt
hatten, vergaßen es ganz und gar über an¬
deren Dingen. Geraume Zeit hernach trat
Clodius mit seinem Medon hervor, dessen
Weisheit, Großmuth und Tugend wir un¬
endlich lächerlich fanden, so sehr auch die er¬
ste Vorstellung des Stücks beklatscht wurde.
Ich machte gleich Abends, als wir zusammen
in unser Weinhaus kamen, einen Prolog in
Knittelversen, wo Arlekin mit zwey großen
Säcken auftritt, sie an beyde Seiten des Pro¬
sceniums stellt und nach verschiedenen vorläu¬
figen Späßen den Zuschauern vertraut, daß
in den beyden Säcken moralisch-ästhetischer
Sand befindlich sey, den ihnen die Schau¬
spieler sehr häufig in die Augen werfen wür¬
den. Der eine sey nämlich mit Wohlthaten
gefüllt, die nichts kosteten, und der andere
mit prächtig ausgedrückten Gesinnungen, die

Dieſes Gedicht ſtand lange Zeit unter ſo
vielen anderen, welche die Waͤnde jener Zim¬
mer verunzierten, ohne bemerkt zu werden,
und wir, die wir uns genugſam daran ergetzt
hatten, vergaßen es ganz und gar uͤber an¬
deren Dingen. Geraume Zeit hernach trat
Clodius mit ſeinem Medon hervor, deſſen
Weisheit, Großmuth und Tugend wir un¬
endlich laͤcherlich fanden, ſo ſehr auch die er¬
ſte Vorſtellung des Stuͤcks beklatſcht wurde.
Ich machte gleich Abends, als wir zuſammen
in unſer Weinhaus kamen, einen Prolog in
Knittelverſen, wo Arlekin mit zwey großen
Saͤcken auftritt, ſie an beyde Seiten des Pro¬
ſceniums ſtellt und nach verſchiedenen vorlaͤu¬
figen Spaͤßen den Zuſchauern vertraut, daß
in den beyden Saͤcken moraliſch–aͤſthetiſcher
Sand befindlich ſey, den ihnen die Schau¬
ſpieler ſehr haͤufig in die Augen werfen wuͤr¬
den. Der eine ſey naͤmlich mit Wohlthaten
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[216/0224] Dieſes Gedicht ſtand lange Zeit unter ſo vielen anderen, welche die Waͤnde jener Zim¬ mer verunzierten, ohne bemerkt zu werden, und wir, die wir uns genugſam daran ergetzt hatten, vergaßen es ganz und gar uͤber an¬ deren Dingen. Geraume Zeit hernach trat Clodius mit ſeinem Medon hervor, deſſen Weisheit, Großmuth und Tugend wir un¬ endlich laͤcherlich fanden, ſo ſehr auch die er¬ ſte Vorſtellung des Stuͤcks beklatſcht wurde. Ich machte gleich Abends, als wir zuſammen in unſer Weinhaus kamen, einen Prolog in Knittelverſen, wo Arlekin mit zwey großen Saͤcken auftritt, ſie an beyde Seiten des Pro¬ ſceniums ſtellt und nach verſchiedenen vorlaͤu¬ figen Spaͤßen den Zuſchauern vertraut, daß in den beyden Saͤcken moraliſch–aͤſthetiſcher Sand befindlich ſey, den ihnen die Schau¬ ſpieler ſehr haͤufig in die Augen werfen wuͤr¬ den. Der eine ſey naͤmlich mit Wohlthaten gefuͤllt, die nichts koſteten, und der andere mit praͤchtig ausgedruͤckten Geſinnungen, die

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/224>, abgerufen am 21.11.2024.