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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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freye Mitte sah man das Portal des fernste¬
henden Tempels, und ein Mann in leichter
Jacke ging zwischen beyden obgedachten Grup¬
pen, ohne sich um sie zu bekümmern, hin¬
durch, gerade auf den Tempel los; man sah
ihn daher im Rücken, er war nicht besonders
ausgezeichnet. Dieser nun sollte Shakespearn
bedeuten, der ohne Vorgänger und Nachfol¬
ger, ohne sich um die Muster zu bekümmern,
auf seine eigne Hand der Unsterblichkeit ent¬
gegengehe. Auf dem großen Boden über dem
neuen Theater ward dieses Werk vollbracht.
Wir versammelten uns dort oft um ihn, und
ich habe ihm daselbst die Aushängebogen von
Musarion vorgelesen.

Was mich betraf, so rückte ich in Ausü¬
bung der Kunst keineswegs weiter. Seine
Lehre wirkte auf unsern Geist und unsern Ge¬
schmack; aber seine eigne Zeichnung war zu
unbestimmt, als daß sie mich, der ich an den
Gegenständen der Kunst und Natur auch nur

freye Mitte ſah man das Portal des fernſte¬
henden Tempels, und ein Mann in leichter
Jacke ging zwiſchen beyden obgedachten Grup¬
pen, ohne ſich um ſie zu bekuͤmmern, hin¬
durch, gerade auf den Tempel los; man ſah
ihn daher im Ruͤcken, er war nicht beſonders
ausgezeichnet. Dieſer nun ſollte Shakeſpearn
bedeuten, der ohne Vorgaͤnger und Nachfol¬
ger, ohne ſich um die Muſter zu bekuͤmmern,
auf ſeine eigne Hand der Unſterblichkeit ent¬
gegengehe. Auf dem großen Boden uͤber dem
neuen Theater ward dieſes Werk vollbracht.
Wir verſammelten uns dort oft um ihn, und
ich habe ihm daſelbſt die Aushaͤngebogen von
Muſarion vorgeleſen.

Was mich betraf, ſo ruͤckte ich in Ausuͤ¬
bung der Kunſt keineswegs weiter. Seine
Lehre wirkte auf unſern Geiſt und unſern Ge¬
ſchmack; aber ſeine eigne Zeichnung war zu
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[237/0245] freye Mitte ſah man das Portal des fernſte¬ henden Tempels, und ein Mann in leichter Jacke ging zwiſchen beyden obgedachten Grup¬ pen, ohne ſich um ſie zu bekuͤmmern, hin¬ durch, gerade auf den Tempel los; man ſah ihn daher im Ruͤcken, er war nicht beſonders ausgezeichnet. Dieſer nun ſollte Shakeſpearn bedeuten, der ohne Vorgaͤnger und Nachfol¬ ger, ohne ſich um die Muſter zu bekuͤmmern, auf ſeine eigne Hand der Unſterblichkeit ent¬ gegengehe. Auf dem großen Boden uͤber dem neuen Theater ward dieſes Werk vollbracht. Wir verſammelten uns dort oft um ihn, und ich habe ihm daſelbſt die Aushaͤngebogen von Muſarion vorgeleſen. Was mich betraf, ſo ruͤckte ich in Ausuͤ¬ bung der Kunſt keineswegs weiter. Seine Lehre wirkte auf unſern Geiſt und unſern Ge¬ ſchmack; aber ſeine eigne Zeichnung war zu unbeſtimmt, als daß ſie mich, der ich an den Gegenſtaͤnden der Kunſt und Natur auch nur

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/245>, abgerufen am 10.05.2024.