Auf zweyerley Weise kann der Geist höch¬ lich erfreut werden, durch Anschauung und Begriff. Aber jenes erfordert einen würdi¬ gen Gegenstand, der nicht immer bereit, und eine verhältnißmäßige Bildung, zu der man nicht gerade gelangt ist. Der Begriff hinge¬ gen will nur Empfänglichkeit, er bringt den Inhalt mit, und ist selbst das Werkzeug der Bildung. Daher war uns jener Lichtstrahl höchst willkommen, den der vortrefflichste Den¬ ker durch düstre Wolken auf uns herableitete. Man muß Jüngling seyn, um sich zu verge¬ genwärtigen, welche Wirkung Lessings Lao¬ koon auf uns ausübte, indem dieses Werk uns aus der Region eines kümmerlichen An¬ schauens in die freyen Gefilde des Gedankens hinriß. Das so lange misverstandene: ut pictura poesis, war auf einmal beseitigt, der Unterschied der bildenden und Redekünste klar, die Gipfel beyder erschienen nun getrennt, wie nah ihre Basen auch zusammenstoßen moch¬ ten. Der bildende Künstler sollte sich inner¬
Auf zweyerley Weiſe kann der Geiſt hoͤch¬ lich erfreut werden, durch Anſchauung und Begriff. Aber jenes erfordert einen wuͤrdi¬ gen Gegenſtand, der nicht immer bereit, und eine verhaͤltnißmaͤßige Bildung, zu der man nicht gerade gelangt iſt. Der Begriff hinge¬ gen will nur Empfaͤnglichkeit, er bringt den Inhalt mit, und iſt ſelbſt das Werkzeug der Bildung. Daher war uns jener Lichtſtrahl hoͤchſt willkommen, den der vortrefflichſte Den¬ ker durch duͤſtre Wolken auf uns herableitete. Man muß Juͤngling ſeyn, um ſich zu verge¬ genwaͤrtigen, welche Wirkung Leſſings Lao¬ koon auf uns ausuͤbte, indem dieſes Werk uns aus der Region eines kuͤmmerlichen An¬ ſchauens in die freyen Gefilde des Gedankens hinriß. Das ſo lange misverſtandene: ut pictura poesis, war auf einmal beſeitigt, der Unterſchied der bildenden und Redekuͤnſte klar, die Gipfel beyder erſchienen nun getrennt, wie nah ihre Baſen auch zuſammenſtoßen moch¬ ten. Der bildende Kuͤnſtler ſollte ſich inner¬
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Auf zweyerley Weiſe kann der Geiſt hoͤch¬
lich erfreut werden, durch Anſchauung und
Begriff. Aber jenes erfordert einen wuͤrdi¬
gen Gegenſtand, der nicht immer bereit, und
eine verhaͤltnißmaͤßige Bildung, zu der man
nicht gerade gelangt iſt. Der Begriff hinge¬
gen will nur Empfaͤnglichkeit, er bringt den
Inhalt mit, und iſt ſelbſt das Werkzeug der
Bildung. Daher war uns jener Lichtſtrahl
hoͤchſt willkommen, den der vortrefflichſte Den¬
ker durch duͤſtre Wolken auf uns herableitete.
Man muß Juͤngling ſeyn, um ſich zu verge¬
genwaͤrtigen, welche Wirkung Leſſings Lao¬
koon auf uns ausuͤbte, indem dieſes Werk
uns aus der Region eines kuͤmmerlichen An¬
ſchauens in die freyen Gefilde des Gedankens
hinriß. Das ſo lange misverſtandene: ut
pictura poesis, war auf einmal beſeitigt, der
Unterſchied der bildenden und Redekuͤnſte klar,
die Gipfel beyder erſchienen nun getrennt, wie
nah ihre Baſen auch zuſammenſtoßen moch¬
ten. Der bildende Kuͤnſtler ſollte ſich inner¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/256>, abgerufen am 24.11.2024.
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