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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Auf zweyerley Weise kann der Geist höch¬
lich erfreut werden, durch Anschauung und
Begriff. Aber jenes erfordert einen würdi¬
gen Gegenstand, der nicht immer bereit, und
eine verhältnißmäßige Bildung, zu der man
nicht gerade gelangt ist. Der Begriff hinge¬
gen will nur Empfänglichkeit, er bringt den
Inhalt mit, und ist selbst das Werkzeug der
Bildung. Daher war uns jener Lichtstrahl
höchst willkommen, den der vortrefflichste Den¬
ker durch düstre Wolken auf uns herableitete.
Man muß Jüngling seyn, um sich zu verge¬
genwärtigen, welche Wirkung Lessings Lao¬
koon
auf uns ausübte, indem dieses Werk
uns aus der Region eines kümmerlichen An¬
schauens in die freyen Gefilde des Gedankens
hinriß. Das so lange misverstandene: ut
pictura poesis
, war auf einmal beseitigt, der
Unterschied der bildenden und Redekünste klar,
die Gipfel beyder erschienen nun getrennt, wie
nah ihre Basen auch zusammenstoßen moch¬
ten. Der bildende Künstler sollte sich inner¬

Auf zweyerley Weiſe kann der Geiſt hoͤch¬
lich erfreut werden, durch Anſchauung und
Begriff. Aber jenes erfordert einen wuͤrdi¬
gen Gegenſtand, der nicht immer bereit, und
eine verhaͤltnißmaͤßige Bildung, zu der man
nicht gerade gelangt iſt. Der Begriff hinge¬
gen will nur Empfaͤnglichkeit, er bringt den
Inhalt mit, und iſt ſelbſt das Werkzeug der
Bildung. Daher war uns jener Lichtſtrahl
hoͤchſt willkommen, den der vortrefflichſte Den¬
ker durch duͤſtre Wolken auf uns herableitete.
Man muß Juͤngling ſeyn, um ſich zu verge¬
genwaͤrtigen, welche Wirkung Leſſings Lao¬
koon
auf uns ausuͤbte, indem dieſes Werk
uns aus der Region eines kuͤmmerlichen An¬
ſchauens in die freyen Gefilde des Gedankens
hinriß. Das ſo lange misverſtandene: ut
pictura poesis
, war auf einmal beſeitigt, der
Unterſchied der bildenden und Redekuͤnſte klar,
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[248/0256] Auf zweyerley Weiſe kann der Geiſt hoͤch¬ lich erfreut werden, durch Anſchauung und Begriff. Aber jenes erfordert einen wuͤrdi¬ gen Gegenſtand, der nicht immer bereit, und eine verhaͤltnißmaͤßige Bildung, zu der man nicht gerade gelangt iſt. Der Begriff hinge¬ gen will nur Empfaͤnglichkeit, er bringt den Inhalt mit, und iſt ſelbſt das Werkzeug der Bildung. Daher war uns jener Lichtſtrahl hoͤchſt willkommen, den der vortrefflichſte Den¬ ker durch duͤſtre Wolken auf uns herableitete. Man muß Juͤngling ſeyn, um ſich zu verge¬ genwaͤrtigen, welche Wirkung Leſſings Lao¬ koon auf uns ausuͤbte, indem dieſes Werk uns aus der Region eines kuͤmmerlichen An¬ ſchauens in die freyen Gefilde des Gedankens hinriß. Das ſo lange misverſtandene: ut pictura poesis, war auf einmal beſeitigt, der Unterſchied der bildenden und Redekuͤnſte klar, die Gipfel beyder erſchienen nun getrennt, wie nah ihre Baſen auch zuſammenſtoßen moch¬ ten. Der bildende Kuͤnſtler ſollte ſich inner¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/256>, abgerufen am 24.11.2024.