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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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nen Verwandten in Dresden, einen Schuster,
mit dem er von Zeit zu Zeit Briefe wechselte.
Dieser Mann war mir wegen seiner Aeuße¬
rungen schon längst höchst merkwürdig gewor¬
den, und die Ankunft eines seiner Briefe ward
von uns immer festlich gefeyert. Die Art,
womit er die Klagen seines, die Blindheit
befürchtenden Vetters erwiederte, war ganz
eigen: denn er bemühte sich nicht um Trost¬
gründe, welche immer schwer zu finden sind;
aber die heitere Art, womit er sein eignes
enges, armes, mühseliges Leben betrachtete,
der Scherz, den er selbst den Uebeln und
Unbequemlichkeiten abgewann, die unverwüst¬
liche Ueberzeugung, daß das Leben an und
für sich ein Gut sey, theilte sich demjenigen
mit, der den Brief las, und versetzte ihn, we¬
nigstens für Augenblicke, in eine gleiche Stim¬
mung. Enthusiastisch wie ich war, hatte ich
diesen Mann öfters verbindlich grüßen lassen,
seine glückliche Naturgabe gerühmt und den
Wunsch, ihn kennen zu lernen, geäußert. Die¬

nen Verwandten in Dresden, einen Schuſter,
mit dem er von Zeit zu Zeit Briefe wechſelte.
Dieſer Mann war mir wegen ſeiner Aeuße¬
rungen ſchon laͤngſt hoͤchſt merkwuͤrdig gewor¬
den, und die Ankunft eines ſeiner Briefe ward
von uns immer feſtlich gefeyert. Die Art,
womit er die Klagen ſeines, die Blindheit
befuͤrchtenden Vetters erwiederte, war ganz
eigen: denn er bemuͤhte ſich nicht um Troſt¬
gruͤnde, welche immer ſchwer zu finden ſind;
aber die heitere Art, womit er ſein eignes
enges, armes, muͤhſeliges Leben betrachtete,
der Scherz, den er ſelbſt den Uebeln und
Unbequemlichkeiten abgewann, die unverwuͤſt¬
liche Ueberzeugung, daß das Leben an und
fuͤr ſich ein Gut ſey, theilte ſich demjenigen
mit, der den Brief las, und verſetzte ihn, we¬
nigſtens fuͤr Augenblicke, in eine gleiche Stim¬
mung. Enthuſiaſtiſch wie ich war, hatte ich
dieſen Mann oͤfters verbindlich gruͤßen laſſen,
ſeine gluͤckliche Naturgabe geruͤhmt und den
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[254/0262] nen Verwandten in Dresden, einen Schuſter, mit dem er von Zeit zu Zeit Briefe wechſelte. Dieſer Mann war mir wegen ſeiner Aeuße¬ rungen ſchon laͤngſt hoͤchſt merkwuͤrdig gewor¬ den, und die Ankunft eines ſeiner Briefe ward von uns immer feſtlich gefeyert. Die Art, womit er die Klagen ſeines, die Blindheit befuͤrchtenden Vetters erwiederte, war ganz eigen: denn er bemuͤhte ſich nicht um Troſt¬ gruͤnde, welche immer ſchwer zu finden ſind; aber die heitere Art, womit er ſein eignes enges, armes, muͤhſeliges Leben betrachtete, der Scherz, den er ſelbſt den Uebeln und Unbequemlichkeiten abgewann, die unverwuͤſt¬ liche Ueberzeugung, daß das Leben an und fuͤr ſich ein Gut ſey, theilte ſich demjenigen mit, der den Brief las, und verſetzte ihn, we¬ nigſtens fuͤr Augenblicke, in eine gleiche Stim¬ mung. Enthuſiaſtiſch wie ich war, hatte ich dieſen Mann oͤfters verbindlich gruͤßen laſſen, ſeine gluͤckliche Naturgabe geruͤhmt und den Wunſch, ihn kennen zu lernen, geaͤußert. Die¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/262>, abgerufen am 20.05.2024.