Ich hatte meinen Freund und Aufseher unvermerkt gewöhnt, ja genöthigt, mich al¬ lein zu lassen; denn selbst in meinem heiligen Walde thaten mir jene unbestimmten, riesen¬ haften Gefühle nicht genug. Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt faßte. Ich hatte von Kindheit auf zwi¬ schen Malern gelebt, und mich gewöhnt, die Gegenstände wie sie, in Bezug auf die Kunst anzusehen. Jetzt, da ich mir selbst und der Einsamkeit überlassen war, trat diese Gabe, halb natürlich, halb erworben, hervor; wo ich hinsah erblickte ich ein Bild, und was mir auffiel, was mich erfreute, wollte ich fest¬ halten, und ich fing an auf die ungeschickteste Weise nach der Natur zu zeichnen. Es fehl¬ te mir hierzu nichts weniger als alles; doch blieb ich hartnäckig daran, ohne irgend ein technisches Mittel, das Herrlichste nachbilden zu wollen, was sich meinen Augen darstellte. Ich gewann freylich dadurch eine große Auf¬ merksamkeit auf die Gegenstände, aber ich
Ich hatte meinen Freund und Aufſeher unvermerkt gewoͤhnt, ja genoͤthigt, mich al¬ lein zu laſſen; denn ſelbſt in meinem heiligen Walde thaten mir jene unbeſtimmten, rieſen¬ haften Gefuͤhle nicht genug. Das Auge war vor allen anderen das Organ, womit ich die Welt faßte. Ich hatte von Kindheit auf zwi¬ ſchen Malern gelebt, und mich gewoͤhnt, die Gegenſtaͤnde wie ſie, in Bezug auf die Kunſt anzuſehen. Jetzt, da ich mir ſelbſt und der Einſamkeit uͤberlaſſen war, trat dieſe Gabe, halb natuͤrlich, halb erworben, hervor; wo ich hinſah erblickte ich ein Bild, und was mir auffiel, was mich erfreute, wollte ich feſt¬ halten, und ich fing an auf die ungeſchickteſte Weiſe nach der Natur zu zeichnen. Es fehl¬ te mir hierzu nichts weniger als alles; doch blieb ich hartnaͤckig daran, ohne irgend ein techniſches Mittel, das Herrlichſte nachbilden zu wollen, was ſich meinen Augen darſtellte. Ich gewann freylich dadurch eine große Auf¬ merkſamkeit auf die Gegenſtaͤnde, aber ich
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Ich hatte meinen Freund und Aufſeher
unvermerkt gewoͤhnt, ja genoͤthigt, mich al¬
lein zu laſſen; denn ſelbſt in meinem heiligen
Walde thaten mir jene unbeſtimmten, rieſen¬
haften Gefuͤhle nicht genug. Das Auge war
vor allen anderen das Organ, womit ich die
Welt faßte. Ich hatte von Kindheit auf zwi¬
ſchen Malern gelebt, und mich gewoͤhnt, die
Gegenſtaͤnde wie ſie, in Bezug auf die Kunſt
anzuſehen. Jetzt, da ich mir ſelbſt und der
Einſamkeit uͤberlaſſen war, trat dieſe Gabe,
halb natuͤrlich, halb erworben, hervor; wo
ich hinſah erblickte ich ein Bild, und was
mir auffiel, was mich erfreute, wollte ich feſt¬
halten, und ich fing an auf die ungeſchickteſte
Weiſe nach der Natur zu zeichnen. Es fehl¬
te mir hierzu nichts weniger als alles; doch
blieb ich hartnaͤckig daran, ohne irgend ein
techniſches Mittel, das Herrlichſte nachbilden
zu wollen, was ſich meinen Augen darſtellte.
Ich gewann freylich dadurch eine große Auf¬
merkſamkeit auf die Gegenſtaͤnde, aber ich
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/28>, abgerufen am 23.11.2024.
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