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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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erkannt wurde. Wir lasen fleißig seine Schrif¬
ten, und suchten uns die Umstände bekannt zu
machen, unter welchen er die ersten geschrie¬
ben hatte. Wir fanden darin manche Ansich¬
ten, die sich von Oesern herzuschreiben schie¬
nen, ja sogar Scherz und Grillen nach seiner
Art, und ließen nicht nach, bis wir uns ei¬
nen ungefähren Begriff von der Gelegenheit
gemacht hatten, bey welcher diese merkwürdi¬
gen und doch mitunter so räthselhaften Schrif¬
ten entstanden waren; ob wir es gleich dabey
nicht sehr genau nahmen: denn die Jugend
will lieber angeregt als unterrichtet seyn, und
es war nicht das letzte Mal, daß ich eine
bedeutende Bildungsstufe sibyllinischen Blät¬
tern verdanken sollte.

Es war damals in der Litteratur eine
schöne Zeit, wo vorzüglichen Menschen noch
mit Achtung begegnet wurde, obgleich die
Kiotzischen Händel und Lessings Controversen
schon darauf hindeuteten, daß diese Epoche

erkannt wurde. Wir laſen fleißig ſeine Schrif¬
ten, und ſuchten uns die Umſtaͤnde bekannt zu
machen, unter welchen er die erſten geſchrie¬
ben hatte. Wir fanden darin manche Anſich¬
ten, die ſich von Oeſern herzuſchreiben ſchie¬
nen, ja ſogar Scherz und Grillen nach ſeiner
Art, und ließen nicht nach, bis wir uns ei¬
nen ungefaͤhren Begriff von der Gelegenheit
gemacht hatten, bey welcher dieſe merkwuͤrdi¬
gen und doch mitunter ſo raͤthſelhaften Schrif¬
ten entſtanden waren; ob wir es gleich dabey
nicht ſehr genau nahmen: denn die Jugend
will lieber angeregt als unterrichtet ſeyn, und
es war nicht das letzte Mal, daß ich eine
bedeutende Bildungsſtufe ſibylliniſchen Blaͤt¬
tern verdanken ſollte.

Es war damals in der Litteratur eine
ſchoͤne Zeit, wo vorzuͤglichen Menſchen noch
mit Achtung begegnet wurde, obgleich die
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[277/0285] erkannt wurde. Wir laſen fleißig ſeine Schrif¬ ten, und ſuchten uns die Umſtaͤnde bekannt zu machen, unter welchen er die erſten geſchrie¬ ben hatte. Wir fanden darin manche Anſich¬ ten, die ſich von Oeſern herzuſchreiben ſchie¬ nen, ja ſogar Scherz und Grillen nach ſeiner Art, und ließen nicht nach, bis wir uns ei¬ nen ungefaͤhren Begriff von der Gelegenheit gemacht hatten, bey welcher dieſe merkwuͤrdi¬ gen und doch mitunter ſo raͤthſelhaften Schrif¬ ten entſtanden waren; ob wir es gleich dabey nicht ſehr genau nahmen: denn die Jugend will lieber angeregt als unterrichtet ſeyn, und es war nicht das letzte Mal, daß ich eine bedeutende Bildungsſtufe ſibylliniſchen Blaͤt¬ tern verdanken ſollte. Es war damals in der Litteratur eine ſchoͤne Zeit, wo vorzuͤglichen Menſchen noch mit Achtung begegnet wurde, obgleich die Kiotziſchen Haͤndel und Leſſings Controverſen ſchon darauf hindeuteten, daß dieſe Epoche

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/285>, abgerufen am 24.11.2024.