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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fä¬
higkeiten, die in uns liegen, Vorboten desje¬
nigen, was wir zu leisten im Stande seyn
werden. Was wir können und möchten, stellt
sich unserer Einbildungskraft außer uns und
in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehn¬
sucht nach dem, was wir schon im Stillen
besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches
Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in
ein erträumtes Wirkliche. Liegt nun eine sol¬
che Richtung entschieden in unserer Natur,
so wird mit jedem Schritt unserer Entwicke¬
lung ein Theil des ersten Wunsches erfüllt,
bey günstigen Umständen auf dem geraden
Wege, bey ungünstigen auf einem Umwege,
von dem wir immer wieder nach jenem ein¬
lenken. So sieht man Menschen durch Be¬
harrlichkeit zu irdischen Gütern gelangen, sie
umgeben sich mit Reichthum, Glanz und
äußerer Ehre. Andere streben noch sicherer
nach geistigen Vortheilen, erwerben sich eine
klare Uebersicht der Dinge, eine Beruhigung

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Unſere Wuͤnſche ſind Vorgefuͤhle der Faͤ¬
higkeiten, die in uns liegen, Vorboten desje¬
nigen, was wir zu leiſten im Stande ſeyn
werden. Was wir koͤnnen und moͤchten, ſtellt
ſich unſerer Einbildungskraft außer uns und
in der Zukunft dar; wir fuͤhlen eine Sehn¬
ſucht nach dem, was wir ſchon im Stillen
beſitzen. So verwandelt ein leidenſchaftliches
Vorausergreifen das wahrhaft Moͤgliche in
ein ertraͤumtes Wirkliche. Liegt nun eine ſol¬
che Richtung entſchieden in unſerer Natur,
ſo wird mit jedem Schritt unſerer Entwicke¬
lung ein Theil des erſten Wunſches erfuͤllt,
bey guͤnſtigen Umſtaͤnden auf dem geraden
Wege, bey unguͤnſtigen auf einem Umwege,
von dem wir immer wieder nach jenem ein¬
lenken. So ſieht man Menſchen durch Be¬
harrlichkeit zu irdiſchen Guͤtern gelangen, ſie
umgeben ſich mit Reichthum, Glanz und
aͤußerer Ehre. Andere ſtreben noch ſicherer
nach geiſtigen Vortheilen, erwerben ſich eine
klare Ueberſicht der Dinge, eine Beruhigung

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[419/0427] Unſere Wuͤnſche ſind Vorgefuͤhle der Faͤ¬ higkeiten, die in uns liegen, Vorboten desje¬ nigen, was wir zu leiſten im Stande ſeyn werden. Was wir koͤnnen und moͤchten, ſtellt ſich unſerer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fuͤhlen eine Sehn¬ ſucht nach dem, was wir ſchon im Stillen beſitzen. So verwandelt ein leidenſchaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Moͤgliche in ein ertraͤumtes Wirkliche. Liegt nun eine ſol¬ che Richtung entſchieden in unſerer Natur, ſo wird mit jedem Schritt unſerer Entwicke¬ lung ein Theil des erſten Wunſches erfuͤllt, bey guͤnſtigen Umſtaͤnden auf dem geraden Wege, bey unguͤnſtigen auf einem Umwege, von dem wir immer wieder nach jenem ein¬ lenken. So ſieht man Menſchen durch Be¬ harrlichkeit zu irdiſchen Guͤtern gelangen, ſie umgeben ſich mit Reichthum, Glanz und aͤußerer Ehre. Andere ſtreben noch ſicherer nach geiſtigen Vortheilen, erwerben ſich eine klare Ueberſicht der Dinge, eine Beruhigung 27 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/427>, abgerufen am 25.11.2024.