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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Lucinde ließ mich los und sah mir ernst ins
Gesicht. Ich wollte ihre Hand ergreifen und
ihr etwas Freundliches sagen; allein sie wand¬
te sich weg, ging mit starken Schritten eini¬
gemal im Zimmer auf und ab und warf sich
dann in die Ecke des Sopha's. Emilie trat
zu ihr, ward aber sogleich weggewiesen, und
hier entstand eine Scene, die mir noch in der
Erinnerung peinlich ist, und die, ob sie gleich
in der Wirklichkeit nichts Theatralisches hatte,
sondern einer lebhaften jungen Französinn
ganz angemessen war, dennoch nur von einer
guten empfindenden Schauspielerinn auf dem
Theater würdig wiederholt werden könnte.

Lucinde überhäufte ihre Schwester mit
tausend Vorwürfen. Es ist nicht das erste
Herz, rief sie aus, das sich zu mir neigt,
und das Du mir entwendest. War es doch
mit dem Abwesenden eben so, der sich zuletzt
unter meinen Augen mit Dir verlobte. Ich

Lucinde ließ mich los und ſah mir ernſt ins
Geſicht. Ich wollte ihre Hand ergreifen und
ihr etwas Freundliches ſagen; allein ſie wand¬
te ſich weg, ging mit ſtarken Schritten eini¬
gemal im Zimmer auf und ab und warf ſich
dann in die Ecke des Sopha's. Emilie trat
zu ihr, ward aber ſogleich weggewieſen, und
hier entſtand eine Scene, die mir noch in der
Erinnerung peinlich iſt, und die, ob ſie gleich
in der Wirklichkeit nichts Theatraliſches hatte,
ſondern einer lebhaften jungen Franzoͤſinn
ganz angemeſſen war, dennoch nur von einer
guten empfindenden Schauſpielerinn auf dem
Theater wuͤrdig wiederholt werden koͤnnte.

Lucinde uͤberhaͤufte ihre Schweſter mit
tauſend Vorwuͤrfen. Es iſt nicht das erſte
Herz, rief ſie aus, das ſich zu mir neigt,
und das Du mir entwendeſt. War es doch
mit dem Abweſenden eben ſo, der ſich zuletzt
unter meinen Augen mit Dir verlobte. Ich

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[441/0449] Lucinde ließ mich los und ſah mir ernſt ins Geſicht. Ich wollte ihre Hand ergreifen und ihr etwas Freundliches ſagen; allein ſie wand¬ te ſich weg, ging mit ſtarken Schritten eini¬ gemal im Zimmer auf und ab und warf ſich dann in die Ecke des Sopha's. Emilie trat zu ihr, ward aber ſogleich weggewieſen, und hier entſtand eine Scene, die mir noch in der Erinnerung peinlich iſt, und die, ob ſie gleich in der Wirklichkeit nichts Theatraliſches hatte, ſondern einer lebhaften jungen Franzoͤſinn ganz angemeſſen war, dennoch nur von einer guten empfindenden Schauſpielerinn auf dem Theater wuͤrdig wiederholt werden koͤnnte. Lucinde uͤberhaͤufte ihre Schweſter mit tauſend Vorwuͤrfen. Es iſt nicht das erſte Herz, rief ſie aus, das ſich zu mir neigt, und das Du mir entwendeſt. War es doch mit dem Abweſenden eben ſo, der ſich zuletzt unter meinen Augen mit Dir verlobte. Ich

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 441. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/449>, abgerufen am 20.05.2024.