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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Hügeln gelagert im Gras, oder sitzend auf
bemoosten Felsen und Baumwurzeln, heiter
und froh ein ländliches Mahl verzehrt hat¬
ten, und uns der Freund alle heiter und gu¬
ter Dinge sah, gebot er mit schalkhafter Wür¬
de, einen Halbkreis sitzend zu schließen, vor
den er hintrat und folgendermaßen emphatisch
zu peroriren anfing:

"Höchst werthe Freunde und Freundinnen,
Gepaarte und Ungepaarte! -- Schon aus
dieser Anrede erhellet, wie nöthig es sey, daß
ein Bußprediger auftrete und der Gesellschaft
das Gewissen schärfe. Ein Theil meiner ed¬
len Freunde ist gepaart, und mag sich dabey
ganz wohl befinden, ein anderer ungepaart,
der befindet sich höchst schlecht, wie ich aus
eigner Erfahrung versichern kann; und wenn
nun gleich die lieben Gepaarten hier die Mehr¬
zahl ausmachen, so gebe ich ihnen doch zu be¬
denken, ob es nicht eben gesellige Pflicht sey,
für alle zu sorgen? Warum vereinigen wir

Huͤgeln gelagert im Gras, oder ſitzend auf
bemooſten Felſen und Baumwurzeln, heiter
und froh ein laͤndliches Mahl verzehrt hat¬
ten, und uns der Freund alle heiter und gu¬
ter Dinge ſah, gebot er mit ſchalkhafter Wuͤr¬
de, einen Halbkreis ſitzend zu ſchließen, vor
den er hintrat und folgendermaßen emphatiſch
zu peroriren anfing:

„Hoͤchſt werthe Freunde und Freundinnen,
Gepaarte und Ungepaarte! — Schon aus
dieſer Anrede erhellet, wie noͤthig es ſey, daß
ein Bußprediger auftrete und der Geſellſchaft
das Gewiſſen ſchaͤrfe. Ein Theil meiner ed¬
len Freunde iſt gepaart, und mag ſich dabey
ganz wohl befinden, ein anderer ungepaart,
der befindet ſich hoͤchſt ſchlecht, wie ich aus
eigner Erfahrung verſichern kann; und wenn
nun gleich die lieben Gepaarten hier die Mehr¬
zahl ausmachen, ſo gebe ich ihnen doch zu be¬
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[40/0048] Huͤgeln gelagert im Gras, oder ſitzend auf bemooſten Felſen und Baumwurzeln, heiter und froh ein laͤndliches Mahl verzehrt hat¬ ten, und uns der Freund alle heiter und gu¬ ter Dinge ſah, gebot er mit ſchalkhafter Wuͤr¬ de, einen Halbkreis ſitzend zu ſchließen, vor den er hintrat und folgendermaßen emphatiſch zu peroriren anfing: „Hoͤchſt werthe Freunde und Freundinnen, Gepaarte und Ungepaarte! — Schon aus dieſer Anrede erhellet, wie noͤthig es ſey, daß ein Bußprediger auftrete und der Geſellſchaft das Gewiſſen ſchaͤrfe. Ein Theil meiner ed¬ len Freunde iſt gepaart, und mag ſich dabey ganz wohl befinden, ein anderer ungepaart, der befindet ſich hoͤchſt ſchlecht, wie ich aus eigner Erfahrung verſichern kann; und wenn nun gleich die lieben Gepaarten hier die Mehr¬ zahl ausmachen, ſo gebe ich ihnen doch zu be¬ denken, ob es nicht eben geſellige Pflicht ſey, fuͤr alle zu ſorgen? Warum vereinigen wir

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/48>, abgerufen am 27.04.2024.