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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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nöthigt, damit das Uebel nicht ärger würde,
die Wunde zugehn zu lassen. Wenn man
nun bey der Operation Herders Standhaftig¬
keit unter solchen Schmerzen bewundern mu߬
te, so hatte seine melancholische, ja grimmi¬
ge Resignation in den Gedanken, zeitlebens
einen solchen Makel tragen zu müssen, etwas
wahrhaft Erhabenes, wodurch er sich die Ver¬
ehrung derer, die ihn schauten und liebten,
für immer zu eigen machte. Dieses Uebel,
das ein so bedeutendes Angesicht entstellte, mu߬
te ihm um so ärgerlicher seyn, als er ein
vorzügliches Frauenzimmer in Darmstadt ken¬
nen gelernt und sich ihre Neigung erworben
hatte. Hauptsächlich in diesem Sinne mochte
er sich jener Cur unterwerfen, um bey der
Rückreise freyer, fröhlicher, wohlgebildeter vor
seine Halbverlobte zu treten, und sich gewis¬
ser und unverbrüchlicher mit ihr zu verbinden.
Er eilte jedoch, sobald als möglich von Stra߬
burg wegzukommen, und weil sein bisheriger
Aufenthalt so kostbar als unangenehm gewe¬

noͤthigt, damit das Uebel nicht aͤrger wuͤrde,
die Wunde zugehn zu laſſen. Wenn man
nun bey der Operation Herders Standhaftig¬
keit unter ſolchen Schmerzen bewundern mu߬
te, ſo hatte ſeine melancholiſche, ja grimmi¬
ge Reſignation in den Gedanken, zeitlebens
einen ſolchen Makel tragen zu muͤſſen, etwas
wahrhaft Erhabenes, wodurch er ſich die Ver¬
ehrung derer, die ihn ſchauten und liebten,
fuͤr immer zu eigen machte. Dieſes Uebel,
das ein ſo bedeutendes Angeſicht entſtellte, mu߬
te ihm um ſo aͤrgerlicher ſeyn, als er ein
vorzuͤgliches Frauenzimmer in Darmſtadt ken¬
nen gelernt und ſich ihre Neigung erworben
hatte. Hauptſaͤchlich in dieſem Sinne mochte
er ſich jener Cur unterwerfen, um bey der
Ruͤckreiſe freyer, froͤhlicher, wohlgebildeter vor
ſeine Halbverlobte zu treten, und ſich gewiſ¬
ſer und unverbruͤchlicher mit ihr zu verbinden.
Er eilte jedoch, ſobald als moͤglich von Stra߬
burg wegzukommen, und weil ſein bisheriger
Aufenthalt ſo koſtbar als unangenehm gewe¬

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[478/0486] noͤthigt, damit das Uebel nicht aͤrger wuͤrde, die Wunde zugehn zu laſſen. Wenn man nun bey der Operation Herders Standhaftig¬ keit unter ſolchen Schmerzen bewundern mu߬ te, ſo hatte ſeine melancholiſche, ja grimmi¬ ge Reſignation in den Gedanken, zeitlebens einen ſolchen Makel tragen zu muͤſſen, etwas wahrhaft Erhabenes, wodurch er ſich die Ver¬ ehrung derer, die ihn ſchauten und liebten, fuͤr immer zu eigen machte. Dieſes Uebel, das ein ſo bedeutendes Angeſicht entſtellte, mu߬ te ihm um ſo aͤrgerlicher ſeyn, als er ein vorzuͤgliches Frauenzimmer in Darmſtadt ken¬ nen gelernt und ſich ihre Neigung erworben hatte. Hauptſaͤchlich in dieſem Sinne mochte er ſich jener Cur unterwerfen, um bey der Ruͤckreiſe freyer, froͤhlicher, wohlgebildeter vor ſeine Halbverlobte zu treten, und ſich gewiſ¬ ſer und unverbruͤchlicher mit ihr zu verbinden. Er eilte jedoch, ſobald als moͤglich von Stra߬ burg wegzukommen, und weil ſein bisheriger Aufenthalt ſo koſtbar als unangenehm gewe¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/486>, abgerufen am 22.11.2024.