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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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und Erzähler solcher Productionen belohnt,
die Neugierde zu erregen, die Aufmerksamkeit
zu fesseln, zu voreiliger Auflösung undurch¬
dringlicher Räthsel zu reizen, die Erwartun¬
gen zu täuschen, durch das Seltsamere, das
an die Stelle des Seltsamen tritt, zu verwir¬
ren, Mitleid und Furcht zu erregen, besorgt
zu machen, zu rühren und endlich durch Um¬
wendung eines scheinbaren Ernstes in geistrei¬
chen und heitern Scherz das Gemüth zu be¬
friedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen
Bildern und dem Verstande zu fernerm Nach¬
denken zu hinterlassen.

Sollte Jemand künftig dieses Mährchen
gedruckt lesen und zweifeln, ob es eine solche
Wirkung habe hervorbringen können; so bedenke
derselbe, daß der Mensch eigentlich nur berufen
ist, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben ist
ein Misbrauch der Sprache, stille für sich le¬
sen ein trauriges Surrogat der Rede. Der

und Erzaͤhler ſolcher Productionen belohnt,
die Neugierde zu erregen, die Aufmerkſamkeit
zu feſſeln, zu voreiliger Aufloͤſung undurch¬
dringlicher Raͤthſel zu reizen, die Erwartun¬
gen zu taͤuſchen, durch das Seltſamere, das
an die Stelle des Seltſamen tritt, zu verwir¬
ren, Mitleid und Furcht zu erregen, beſorgt
zu machen, zu ruͤhren und endlich durch Um¬
wendung eines ſcheinbaren Ernſtes in geiſtrei¬
chen und heitern Scherz das Gemuͤth zu be¬
friedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen
Bildern und dem Verſtande zu fernerm Nach¬
denken zu hinterlaſſen.

Sollte Jemand kuͤnftig dieſes Maͤhrchen
gedruckt leſen und zweifeln, ob es eine ſolche
Wirkung habe hervorbringen koͤnnen; ſo bedenke
derſelbe, daß der Menſch eigentlich nur berufen
iſt, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben iſt
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[570/0578] und Erzaͤhler ſolcher Productionen belohnt, die Neugierde zu erregen, die Aufmerkſamkeit zu feſſeln, zu voreiliger Aufloͤſung undurch¬ dringlicher Raͤthſel zu reizen, die Erwartun¬ gen zu taͤuſchen, durch das Seltſamere, das an die Stelle des Seltſamen tritt, zu verwir¬ ren, Mitleid und Furcht zu erregen, beſorgt zu machen, zu ruͤhren und endlich durch Um¬ wendung eines ſcheinbaren Ernſtes in geiſtrei¬ chen und heitern Scherz das Gemuͤth zu be¬ friedigen, der Einbildungskraft Stoff zu neuen Bildern und dem Verſtande zu fernerm Nach¬ denken zu hinterlaſſen. Sollte Jemand kuͤnftig dieſes Maͤhrchen gedruckt leſen und zweifeln, ob es eine ſolche Wirkung habe hervorbringen koͤnnen; ſo bedenke derſelbe, daß der Menſch eigentlich nur berufen iſt, in der Gegenwart zu wirken. Schreiben iſt ein Misbrauch der Sprache, ſtille fuͤr ſich le¬ ſen ein trauriges Surrogat der Rede. Der

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 570. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/578>, abgerufen am 21.11.2024.