Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Doch sollte ich noch in derselbigen Nacht,
als wenn sie recht zu abwechselnden Schicksa¬
len bestimmt gewesen wäre, nach einem uner¬
wartet glücklichen Ereigniß, einen neckischen
Verdruß empfinden. Wir trafen nämlich in
Auerstädt ein vornehmes Ehepaar, das, durch
ähnliche Schicksale verspätet, eben auch erst
angekommen war; einen ansehnlichen würdigen
Mann in den besten Jahren mit einer sehr
schönen Gemahlinn. Zuvorkommend veranla߬
ten sie uns, in ihrer Gesellschaft zu speisen,
und ich fand mich sehr glücklich, als die treff¬
liche Dame ein freundliches Wort an mich wen¬
den wollte. Als ich aber hinausgesandt ward,
die gehoffte Suppe zu beschleunigen, überfiel
mich, der ich freylich des Wachens und der
Reisebeschwerden nicht gewohnt war, eine so
unüberwindliche Schlafsucht, daß ich ganz ei¬
gentlich im Gehen schlief, mit dem Hut auf
dem Kopfe wieder in das Zimmer trat, mich,
ohne zu bemerken, daß die Anderen ihre Tisch¬
gebet verrichteten, bewußtlos gelassen gleich¬

Doch ſollte ich noch in derſelbigen Nacht,
als wenn ſie recht zu abwechſelnden Schickſa¬
len beſtimmt geweſen waͤre, nach einem uner¬
wartet gluͤcklichen Ereigniß, einen neckiſchen
Verdruß empfinden. Wir trafen naͤmlich in
Auerſtaͤdt ein vornehmes Ehepaar, das, durch
aͤhnliche Schickſale verſpaͤtet, eben auch erſt
angekommen war; einen anſehnlichen wuͤrdigen
Mann in den beſten Jahren mit einer ſehr
ſchoͤnen Gemahlinn. Zuvorkommend veranla߬
ten ſie uns, in ihrer Geſellſchaft zu ſpeiſen,
und ich fand mich ſehr gluͤcklich, als die treff¬
liche Dame ein freundliches Wort an mich wen¬
den wollte. Als ich aber hinausgeſandt ward,
die gehoffte Suppe zu beſchleunigen, uͤberfiel
mich, der ich freylich des Wachens und der
Reiſebeſchwerden nicht gewohnt war, eine ſo
unuͤberwindliche Schlafſucht, daß ich ganz ei¬
gentlich im Gehen ſchlief, mit dem Hut auf
dem Kopfe wieder in das Zimmer trat, mich,
ohne zu bemerken, daß die Anderen ihre Tiſch¬
gebet verrichteten, bewußtlos gelaſſen gleich¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0076" n="68"/>
        <p>Doch &#x017F;ollte ich noch in der&#x017F;elbigen Nacht,<lb/>
als wenn &#x017F;ie recht zu abwech&#x017F;elnden Schick&#x017F;<lb/>
len be&#x017F;timmt gewe&#x017F;en wa&#x0364;re, nach einem uner¬<lb/>
wartet glu&#x0364;cklichen Ereigniß, einen necki&#x017F;chen<lb/>
Verdruß empfinden. Wir trafen na&#x0364;mlich in<lb/>
Auer&#x017F;ta&#x0364;dt ein vornehmes Ehepaar, das, durch<lb/>
a&#x0364;hnliche Schick&#x017F;ale ver&#x017F;pa&#x0364;tet, eben auch er&#x017F;t<lb/>
angekommen war; einen an&#x017F;ehnlichen wu&#x0364;rdigen<lb/>
Mann in den be&#x017F;ten Jahren mit einer &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;nen Gemahlinn. Zuvorkommend veranla߬<lb/>
ten &#x017F;ie uns, in ihrer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft zu &#x017F;pei&#x017F;en,<lb/>
und ich fand mich &#x017F;ehr glu&#x0364;cklich, als die treff¬<lb/>
liche Dame ein freundliches Wort an mich wen¬<lb/>
den wollte. Als ich aber hinausge&#x017F;andt ward,<lb/>
die gehoffte Suppe zu be&#x017F;chleunigen, u&#x0364;berfiel<lb/>
mich, der ich freylich des Wachens und der<lb/>
Rei&#x017F;ebe&#x017F;chwerden nicht gewohnt war, eine &#x017F;o<lb/>
unu&#x0364;berwindliche Schlaf&#x017F;ucht, daß ich ganz ei¬<lb/>
gentlich im Gehen &#x017F;chlief, mit dem Hut auf<lb/>
dem Kopfe wieder in das Zimmer trat, mich,<lb/>
ohne zu bemerken, daß die Anderen ihre Ti&#x017F;ch¬<lb/>
gebet verrichteten, bewußtlos gela&#x017F;&#x017F;en gleich¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[68/0076] Doch ſollte ich noch in derſelbigen Nacht, als wenn ſie recht zu abwechſelnden Schickſa¬ len beſtimmt geweſen waͤre, nach einem uner¬ wartet gluͤcklichen Ereigniß, einen neckiſchen Verdruß empfinden. Wir trafen naͤmlich in Auerſtaͤdt ein vornehmes Ehepaar, das, durch aͤhnliche Schickſale verſpaͤtet, eben auch erſt angekommen war; einen anſehnlichen wuͤrdigen Mann in den beſten Jahren mit einer ſehr ſchoͤnen Gemahlinn. Zuvorkommend veranla߬ ten ſie uns, in ihrer Geſellſchaft zu ſpeiſen, und ich fand mich ſehr gluͤcklich, als die treff¬ liche Dame ein freundliches Wort an mich wen¬ den wollte. Als ich aber hinausgeſandt ward, die gehoffte Suppe zu beſchleunigen, uͤberfiel mich, der ich freylich des Wachens und der Reiſebeſchwerden nicht gewohnt war, eine ſo unuͤberwindliche Schlafſucht, daß ich ganz ei¬ gentlich im Gehen ſchlief, mit dem Hut auf dem Kopfe wieder in das Zimmer trat, mich, ohne zu bemerken, daß die Anderen ihre Tiſch¬ gebet verrichteten, bewußtlos gelaſſen gleich¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/76
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/76>, abgerufen am 21.11.2024.