Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

ren das bürgerliche Leben auch nicht erman¬
gelt, zu ihren Stücken erwählten, sich der
Prosa gleichfalls zu höherem Ausdruck be¬
dienten, und so die unnatürlichen Verse zu¬
gleich mit der unnatürlichen Declamation und
Gesticulation allmählig verbannten.

Höchst merkwürdig ist es und nicht so all¬
gemein beachtet, daß zu dieser Zeit selbst der
alten strengen, rhythmischen, kunstreichen Tra¬
gödie mit einer Revolution gedroht ward, die
nur durch große Talente und die Macht des
Herkommens abgelenkt werden konnte.

Es stellte sich nämlich dem Schauspieler
Le Cain, der seine Helden mit besondrem
theatralischen Anstand, mit Erholung, Erhe¬
bung und Kraft spielte, und sich vom Na¬
türlichen und Gewöhnlichen entfernt hielt, ein
Mann gegenüber, mit Namen Aufresne,
der aller Unnatur den Krieg erklärte und in
seinem tragischen Spiel die höchste Wahrheit

ren das buͤrgerliche Leben auch nicht erman¬
gelt, zu ihren Stuͤcken erwaͤhlten, ſich der
Proſa gleichfalls zu hoͤherem Ausdruck be¬
dienten, und ſo die unnatuͤrlichen Verſe zu¬
gleich mit der unnatuͤrlichen Declamation und
Geſticulation allmaͤhlig verbannten.

Hoͤchſt merkwuͤrdig iſt es und nicht ſo all¬
gemein beachtet, daß zu dieſer Zeit ſelbſt der
alten ſtrengen, rhythmiſchen, kunſtreichen Tra¬
goͤdie mit einer Revolution gedroht ward, die
nur durch große Talente und die Macht des
Herkommens abgelenkt werden konnte.

Es ſtellte ſich naͤmlich dem Schauſpieler
Le Cain, der ſeine Helden mit beſondrem
theatraliſchen Anſtand, mit Erholung, Erhe¬
bung und Kraft ſpielte, und ſich vom Na¬
tuͤrlichen und Gewoͤhnlichen entfernt hielt, ein
Mann gegenuͤber, mit Namen Aufresne,
der aller Unnatur den Krieg erklaͤrte und in
ſeinem tragiſchen Spiel die hoͤchſte Wahrheit

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0108" n="100"/>
ren das bu&#x0364;rgerliche Leben auch nicht erman¬<lb/>
gelt, zu ihren Stu&#x0364;cken erwa&#x0364;hlten, &#x017F;ich der<lb/>
Pro&#x017F;a gleichfalls zu ho&#x0364;herem Ausdruck be¬<lb/>
dienten, und &#x017F;o die unnatu&#x0364;rlichen Ver&#x017F;e zu¬<lb/>
gleich mit der unnatu&#x0364;rlichen Declamation und<lb/>
Ge&#x017F;ticulation allma&#x0364;hlig verbannten.</p><lb/>
        <p>Ho&#x0364;ch&#x017F;t merkwu&#x0364;rdig i&#x017F;t es und nicht &#x017F;o all¬<lb/>
gemein beachtet, daß zu die&#x017F;er Zeit &#x017F;elb&#x017F;t der<lb/>
alten &#x017F;trengen, rhythmi&#x017F;chen, kun&#x017F;treichen Tra¬<lb/>
go&#x0364;die mit einer Revolution gedroht ward, die<lb/>
nur durch große Talente und die Macht des<lb/>
Herkommens abgelenkt werden konnte.</p><lb/>
        <p>Es &#x017F;tellte &#x017F;ich na&#x0364;mlich dem Schau&#x017F;pieler<lb/><hi rendition="#g">Le Cain</hi>, der &#x017F;eine Helden mit be&#x017F;ondrem<lb/>
theatrali&#x017F;chen An&#x017F;tand, mit Erholung, Erhe¬<lb/>
bung und Kraft &#x017F;pielte, und &#x017F;ich vom Na¬<lb/>
tu&#x0364;rlichen und Gewo&#x0364;hnlichen entfernt hielt, ein<lb/>
Mann gegenu&#x0364;ber, mit Namen <hi rendition="#g">Aufresne</hi>,<lb/>
der aller Unnatur den Krieg erkla&#x0364;rte und in<lb/>
&#x017F;einem tragi&#x017F;chen Spiel die ho&#x0364;ch&#x017F;te Wahrheit<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0108] ren das buͤrgerliche Leben auch nicht erman¬ gelt, zu ihren Stuͤcken erwaͤhlten, ſich der Proſa gleichfalls zu hoͤherem Ausdruck be¬ dienten, und ſo die unnatuͤrlichen Verſe zu¬ gleich mit der unnatuͤrlichen Declamation und Geſticulation allmaͤhlig verbannten. Hoͤchſt merkwuͤrdig iſt es und nicht ſo all¬ gemein beachtet, daß zu dieſer Zeit ſelbſt der alten ſtrengen, rhythmiſchen, kunſtreichen Tra¬ goͤdie mit einer Revolution gedroht ward, die nur durch große Talente und die Macht des Herkommens abgelenkt werden konnte. Es ſtellte ſich naͤmlich dem Schauſpieler Le Cain, der ſeine Helden mit beſondrem theatraliſchen Anſtand, mit Erholung, Erhe¬ bung und Kraft ſpielte, und ſich vom Na¬ tuͤrlichen und Gewoͤhnlichen entfernt hielt, ein Mann gegenuͤber, mit Namen Aufresne, der aller Unnatur den Krieg erklaͤrte und in ſeinem tragiſchen Spiel die hoͤchſte Wahrheit

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/108
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/108>, abgerufen am 19.05.2024.