te, aber doch nicht so viel als jene verlor, war voraussehender oder offener. Sie sprach manchmal mit mir über meinen vermuthlichen Abschied und suchte über sich selbst und ihre Schwester sich zu trösten. Ein Mädchen das einem Manne entsagt, dem sie ihre Gewo¬ genheit nicht verleugnet, ist lange nicht in der peinlichen Lage, in der sich ein Jüngling be¬ findet, der mit Erklärungen eben so weit ge¬ gen ein Frauenzimmer herausgegangen ist. Er spielt immer eine leidige Figur: denn von ihm, als einem werdenden Manne, erwartet man schon eine gewisse Uebersicht seines Zu¬ standes, und ein entschiedener Leichtsinn will ihn nicht kleiden. Die Ursachen eines Mäd¬ chens, das sich zurückzieht, scheinen immer gültig, die des Mannes niemals.
Allein wie soll eine schmeichelnde Leiden¬ schaft uns voraussehn lassen, wohin sie uns führen kann? Denn auch selbst alsdann, wenn wir schon ganz verständig auf sie Ver¬
te, aber doch nicht ſo viel als jene verlor, war vorausſehender oder offener. Sie ſprach manchmal mit mir uͤber meinen vermuthlichen Abſchied und ſuchte uͤber ſich ſelbſt und ihre Schweſter ſich zu troͤſten. Ein Maͤdchen das einem Manne entſagt, dem ſie ihre Gewo¬ genheit nicht verleugnet, iſt lange nicht in der peinlichen Lage, in der ſich ein Juͤngling be¬ findet, der mit Erklaͤrungen eben ſo weit ge¬ gen ein Frauenzimmer herausgegangen iſt. Er ſpielt immer eine leidige Figur: denn von ihm, als einem werdenden Manne, erwartet man ſchon eine gewiſſe Ueberſicht ſeines Zu¬ ſtandes, und ein entſchiedener Leichtſinn will ihn nicht kleiden. Die Urſachen eines Maͤd¬ chens, das ſich zuruͤckzieht, ſcheinen immer guͤltig, die des Mannes niemals.
Allein wie ſoll eine ſchmeichelnde Leiden¬ ſchaft uns vorausſehn laſſen, wohin ſie uns fuͤhren kann? Denn auch ſelbſt alsdann, wenn wir ſchon ganz verſtaͤndig auf ſie Ver¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0131"n="123"/>
te, aber doch nicht ſo viel als jene verlor, war<lb/>
vorausſehender oder offener. Sie ſprach<lb/>
manchmal mit mir uͤber meinen vermuthlichen<lb/>
Abſchied und ſuchte uͤber ſich ſelbſt und ihre<lb/>
Schweſter ſich zu troͤſten. Ein Maͤdchen das<lb/>
einem Manne entſagt, dem ſie ihre Gewo¬<lb/>
genheit nicht verleugnet, iſt lange nicht in der<lb/>
peinlichen Lage, in der ſich ein Juͤngling be¬<lb/>
findet, der mit Erklaͤrungen eben ſo weit ge¬<lb/>
gen ein Frauenzimmer herausgegangen iſt.<lb/>
Er ſpielt immer eine leidige Figur: denn von<lb/>
ihm, als einem werdenden Manne, erwartet<lb/>
man ſchon eine gewiſſe Ueberſicht ſeines Zu¬<lb/>ſtandes, und ein entſchiedener Leichtſinn will<lb/>
ihn nicht kleiden. Die Urſachen eines Maͤd¬<lb/>
chens, das ſich zuruͤckzieht, ſcheinen immer<lb/>
guͤltig, die des Mannes niemals.</p><lb/><p>Allein wie ſoll eine ſchmeichelnde Leiden¬<lb/>ſchaft uns vorausſehn laſſen, wohin ſie uns<lb/>
fuͤhren kann? Denn auch ſelbſt alsdann,<lb/>
wenn wir ſchon ganz verſtaͤndig auf ſie Ver¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[123/0131]
te, aber doch nicht ſo viel als jene verlor, war
vorausſehender oder offener. Sie ſprach
manchmal mit mir uͤber meinen vermuthlichen
Abſchied und ſuchte uͤber ſich ſelbſt und ihre
Schweſter ſich zu troͤſten. Ein Maͤdchen das
einem Manne entſagt, dem ſie ihre Gewo¬
genheit nicht verleugnet, iſt lange nicht in der
peinlichen Lage, in der ſich ein Juͤngling be¬
findet, der mit Erklaͤrungen eben ſo weit ge¬
gen ein Frauenzimmer herausgegangen iſt.
Er ſpielt immer eine leidige Figur: denn von
ihm, als einem werdenden Manne, erwartet
man ſchon eine gewiſſe Ueberſicht ſeines Zu¬
ſtandes, und ein entſchiedener Leichtſinn will
ihn nicht kleiden. Die Urſachen eines Maͤd¬
chens, das ſich zuruͤckzieht, ſcheinen immer
guͤltig, die des Mannes niemals.
Allein wie ſoll eine ſchmeichelnde Leiden¬
ſchaft uns vorausſehn laſſen, wohin ſie uns
fuͤhren kann? Denn auch ſelbſt alsdann,
wenn wir ſchon ganz verſtaͤndig auf ſie Ver¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/131>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.