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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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schen Himmel blieben nur wenige bedeutende
Sterne, indem er die übrigen alle nur als vor¬
überfahrende Schnuppen behandelte; ja was
ich von mir selbst hoffen und wähnen konnte,
hatte er mir dermaßen verkümmert, daß ich
an meinen eignen Fähigkeiten zu verzweifeln
anfing. Zu gleicher Zeit jedoch riß er mich
fort auf den herrlichen breiten Weg, den er
selbst zu durchwandern geneigt war, machte
mich aufmerksam auf seine Lieblingsschriftstel¬
ler, unter denen Swift und Hamann oben
an standen, und schüttelte mich kräftiger auf
als er mich gebeugt hatte. Zu dieser vielfa¬
chen Verwirrung nunmehr eine angehende Lei¬
denschaft, die, indem sie mich zu verschlin¬
gen drohte, zwar von jenen Zuständen mich
abziehn, aber wohl schwerlich darüber erhe¬
ben konnte. Dazu kam noch ein körperliches
Uebel, daß mir nämlich nach Tische die
Kehle wie zugeschnürt war; welches ich erst
später sehr leicht los wurde, als ich einem
rothen Wein, den wir in der Pension ge¬

ſchen Himmel blieben nur wenige bedeutende
Sterne, indem er die uͤbrigen alle nur als vor¬
uͤberfahrende Schnuppen behandelte; ja was
ich von mir ſelbſt hoffen und waͤhnen konnte,
hatte er mir dermaßen verkuͤmmert, daß ich
an meinen eignen Faͤhigkeiten zu verzweifeln
anfing. Zu gleicher Zeit jedoch riß er mich
fort auf den herrlichen breiten Weg, den er
ſelbſt zu durchwandern geneigt war, machte
mich aufmerkſam auf ſeine Lieblingsſchriftſtel¬
ler, unter denen Swift und Hamann oben
an ſtanden, und ſchuͤttelte mich kraͤftiger auf
als er mich gebeugt hatte. Zu dieſer vielfa¬
chen Verwirrung nunmehr eine angehende Lei¬
denſchaft, die, indem ſie mich zu verſchlin¬
gen drohte, zwar von jenen Zuſtaͤnden mich
abziehn, aber wohl ſchwerlich daruͤber erhe¬
ben konnte. Dazu kam noch ein koͤrperliches
Uebel, daß mir naͤmlich nach Tiſche die
Kehle wie zugeſchnuͤrt war; welches ich erſt
ſpaͤter ſehr leicht los wurde, als ich einem
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[8/0016] ſchen Himmel blieben nur wenige bedeutende Sterne, indem er die uͤbrigen alle nur als vor¬ uͤberfahrende Schnuppen behandelte; ja was ich von mir ſelbſt hoffen und waͤhnen konnte, hatte er mir dermaßen verkuͤmmert, daß ich an meinen eignen Faͤhigkeiten zu verzweifeln anfing. Zu gleicher Zeit jedoch riß er mich fort auf den herrlichen breiten Weg, den er ſelbſt zu durchwandern geneigt war, machte mich aufmerkſam auf ſeine Lieblingsſchriftſtel¬ ler, unter denen Swift und Hamann oben an ſtanden, und ſchuͤttelte mich kraͤftiger auf als er mich gebeugt hatte. Zu dieſer vielfa¬ chen Verwirrung nunmehr eine angehende Lei¬ denſchaft, die, indem ſie mich zu verſchlin¬ gen drohte, zwar von jenen Zuſtaͤnden mich abziehn, aber wohl ſchwerlich daruͤber erhe¬ ben konnte. Dazu kam noch ein koͤrperliches Uebel, daß mir naͤmlich nach Tiſche die Kehle wie zugeſchnuͤrt war; welches ich erſt ſpaͤter ſehr leicht los wurde, als ich einem rothen Wein, den wir in der Penſion ge¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/16>, abgerufen am 03.12.2024.